Heft 1142: Das Potenzial von Verkehrsnebenflächen zur Förderung der Biodiversität und ihre Rolle bei der Ausbreitung gebietsfremder Arten
Andrea Schleicher, Klaus Albrecht, Kilian Dorbath, Hagen S. Fischer, Maren K. Höfers, Judith Kehl,
Gert Verheyen, Joachim Pfau, Ralf Baufeld, Peter Gropengießer, Hanna Kaldenbach, Michael Kleyer
unter Mitarbeit von: B. Bartsch, L. Bolte, J.Geier, L,Hudel, H. van’t Hull, K.Klibingat, M. Röder
182 S., 52 Abb., 25 Tab., ISBN 978-3-95606-674-0, 2022 € 23,50
Ziel des Projekts ist es, eine Bestandsaufnahme von vorherrschenden Biotoptypen, der Vegetation und ausgewählten Tiergruppen an den drei Verkehrsträgern Straße, Schiene und Wasserstraße zu erhalten. Es soll eine Grundlage geschaffen werden für 1. Die Optimierung von Maßnahmen zur Förderung der Biodiversität unter den im Untersuchungsraum gegebenen Bedingungen, 2. eine verkehrsträgerüber-greifende Verbesserung der ökologischen Vernetzung an bzw. von Verkehrswegen und 3. die gezielte und kosteneffektive Kontrolle von Neobiota. Die Untersuchungen fanden im Naturraum der Börden statt, einer intensiv agrarisch genutzten Region mit sehr produktiven Löss-Schwarzerde-Böden. Die Biotoptypenkartierungen zeigen, dass der Untersuchungsraum von einer intensiven Landwirtschaft ge- prägt ist. Rund die Hälfte der Fläche sind Äcker. Verkehrswege außerhalb von Siedlungen nehmen 5,5% ein. Wälder, Gehölze des Offenlands und Röhrichte/Säume/Staudenfluren mit hohem Natur-schutzwert sind selten. Nur 10 % der Fläche kann einem gefährdeten Biotoptyp zugeordnet werden. Die Nebenflächen der Verkehrswege werden zu großen Teilen von naturnahen Gehölzen eingenommen. Dadurch wird auch die räumliche Vernetzung von Gehölzlebensräumen entlang der Verkehrswege deutlich verbessert. Der Lebensraumverbund von Trockenlebensräumen profitiert nur vom Begleitgrün der Schienenwege. Die Verbreitung von Neophyten hängt im Untersuchungsgebiet nicht deutlich mit dem Vorhandensein von Verkehrswegen zusammen. Die regelmäßige Pflege von Verkehrsneben- flächen ist vermutlich ausschlaggebend für die im Vergleich zu angrenzenden Flächen eher geringeren Deckung krautiger, invasiver Neophyten. Von den betrachteten Verkehrsträgern heben sich Schienenwege durch ein tendenziell stärkeres Auftreten von Neophyten ab. Dies scheint zumindest teilweise auf günstige Ausbreitungsbedingungen zurückzuführen sein, wie am Beispiel der Neo-phytenart Riesen-Goldrute (Solidago gigantea) gezeigt wurde. Die Vegetationsaufnahmen belegen, dass die Verkehrsnebenflächen des Untersuchungsraums eine besondere Bedeutung für nähr-stoffarme, magere Säume besitzen, die ausschließlich auf den anthropogen geschaffenen Standorten entlang von Verkehrswegen vorkommen. Die Artenzahl gleicher Vegetationseinheiten unterscheidet sich aber kaum zwischen Verkehrsnebenflächen und umgebender Landschaft. Besonders hohe Artenzahlen wurde häufig entlang von Wasserstraßen, in Kreuzungssituationen und in der Umgebung von Naturschutzgebieten gefunden. Dies weist auf die Bedeutung großflächiger Böschungen in ver-schiedenen Expositionen hin. Die erhöhten Artenzahlen in der Nähe von Naturschutzgebieten belegen die Bedeutung der Vernetzung mit geeigneten Biotopen. Die geringen Unterschiede in der Artenzusammensetzung intensiv und extensiv gepflegter Bereiche der Verkehrsnebenflächen lassen darauf schließen, dass nicht die Pflegeintensität, sondern andere Faktoren, wie standörtliche Unterschiede, die lokale Artenzusammensetzung bestimmen. Bei den faunistischen Erfassungen wurden bei allen Tiergruppen (Vögel, Reptilien, Amphibien, Tagfalter, Laufkäfer und Spinnen) nur wenige gefährdete oder besonders geschützte Arten nachgewiesen. Für einige spielt das Verkehrsbegleitgrün eine wichtige Rolle. Die an den Verkehrswegen gepflanzten Hecken und Gehölze erfüllen wichtige Lebensraumfunktionen für an Hecken gebundene Vogelarten. Bei den Tagfaltern wurden an den Verkehrswegen höhere Artenzahlen und auch mehr gefährdete Arten festgestellt, was vermutlich auf die strukturelle Anreicherung der Hildesheimer Börde durch die Böschungen an Verkehrswegen zurückzuführen ist. Die Waldeidechse zeigt an Schienenwegen höhere Individuen-zahlen als an anderen Verkehrswegen oder in der freien Landschaft. Für andere Artengruppen stellen die Verkehrswege dagegen eine Minderung der Habitatqualität dar. So wurden bei den Feldbrütern in der Nähe von Verkehrswegen geringere Artenzahlen und Brutpaardichten festgestellt als fernab. Bei den Bodenspinnen und Laufkäfern wurden an den Verkehrswegen reduzierte Arten- und Individuenzah-
len festgestellt, möglicherweise bedingt durch Unterschiede in der Habitatausstattung. Neozoen wurden im Rahmen dieser Studie nur vereinzelt beobachtet. Der naturschutzfachliche Wert der Verkehrs-nebenflächen in der Hildesheimer Börde wird demnach bedingt durch die Erhöhung der Anteile und der Vernetzung naturschutzfachlich bedeutsamer Gehölze und die Ergänzung des naturräumlichen Inventars um nährstoffarme, teils wärmebegünstigte Lebensräume. Vor allem in Bereichen besonderer Standortgunst (Flächengröße, Exposition) und in räumlicher Vernetzung mit naturschutzfachlich bedeut-samen Spenderflächen bestehen besondere Potenziale zur Förderung der Biodiversität, die bereits bei
Planung und Anlage (Bodenarbeiten) berücksichtigt werden sollten. Zielgerichtete Pflegemaßnahmen,
wie ein späterer Erstschnitt und Abfuhr des Mahdguts, können auf geeigneten Standorten zusätzlich
dazu beitragen, das naturschutzfachliche Potenzial besser auszuschöpfen.
Aktualisiert: 2023-01-16
Autor:
Klaus Albrecht,
B. Bartsch,
Ralf Baufeld,
L. Bolte,
Kilian Dorbath,
Hagen S. Fischer,
J. Geier,
Peter Gropengießer,
Maren K. Höfers,
I. Hudel,
Hanna Kaldenbach,
Judith Kehl,
Michael Kleyer,
K. Klibingat,
Joachim Pfau,
M. Röder,
Andrea Schleicher,
H. van't Hull,
Gert Verheyen
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Straßenseitenräume stellen einerseits für viele Tierarten wertvolle und gut vernetzte Habitate dar. Andererseits bedingen die Verkehrswege Verluste durch Kollisionen, Schadstoffimmissionen und Lärm. Dabei ist meist unklar, ob positive oder negative Wirkungen überwiegen, und ob sie die gesamte Population beeinflussen können. Überwiegen negative, populationsrelevante Wirkungen, könnten im Extremfall Individuen aus verkehrlich unbeeinflussten Habitaten an die Straße gelockt und damit die gesamte Population geschwächt werden. Ziel der vorliegenden Studie war es, die Relevanz einer solchen indirekten Fallenwirkung in Straßenseitenräumen zu untersuchen und gegebenenfalls erforderliche Minimierungsmöglichkeiten abzuleiten. Dazu wurden für die Arten Haselmaus, Mönchsgrasmücke und die Tagfalter Kleines Wiesenvögelchen und Hauhechelbläuling an einer Autobahn bzw. vielbefahrenen Straße über drei Jahre populationsökologische und teilweise genetische Untersuchungen durchgeführt. Für keine der Arten wurde eine indirekte Fallenwirkung in Straßenseitenräumen belegt. Im Hinblick auf die Haselmaus zeigte ein Vergleich der Dichten straßennaher und straßenferner Populationen, dass straßennahe Lebensräume im Vergleich zu straßenfernen höher- oder gleichwertig sein können. Die genetischen Untersuchungen belegten zudem, dass die Haselmauspopulationen in Straßenbegleitgehölzen vital sind und sie als Ausbreitungsachse nutzen. Bei der Mönchsgrasmücke waren die ermittelten Revierdichten und der Bruterfolg von straßennahen Populationen nicht generell geringer als von straßenfernen. Auch für die Tagfalter, speziell den Hauhechelbläuling, konnte gezeigt werden, dass straßennahe Populationen genetisch von den straßenfernen Populationen nicht unterschieden werden können. Auch die Populationsgrößen bzw. -dichten waren ähnlich, obwohl die adulten Tagfalter in Straßenseitenräumen vermutlich eine erhöhte Mortalitätsrate erlitten als in verkehrlich unbeeinflussten Habitaten. Diese wirkte sich jedoch nicht negativ auf die Populationen aus. Trotz verkehrsbedingter Beeinträchtigungen ist es folglich sinnvoll, in Straßenseitenräumen Maßnahmen zur Förderung der Artenvielfalt umzusetzen. Dabei spielen vor allem eine hohe Habitateignung, ausreichende Breite sowie eine möglichst gute Vernetzung eine wesentliche Rolle. Gleichwohl können sie aufgrund der vorhandenen Beeinträchtigungen nicht als adäquate Ersatzhabitate für ökologisch hochwertige Lebensräume gesehen werden.
Aktualisiert: 2023-05-04
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