Pressetext:
Jung in Jungenthal – die größte Baumwollmaschinenspinnerei in Preußen
Die Baumwollspinnerei Jung in Jungenthal bei Kirchen/Sieg war in der Zeit der Frühindustrialisierung in Deutschland ein Unternehmen der Superlative: Nach der Zahl der Spindeln war die Spinnerei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – konkret in den Jahren 1818-1838 – die größte Baumwollmaschinenspinnerei in Preußen. Knapp 10.000 Spindeln waren seinerzeit in Gang. Sie wurden von der Wasserkraft der Flüsse Sieg und Asdorf angetrieben. Der Standort des Unternehmens an der Mündung der Asdorf in die Sieg war mit Bedacht gewählt worden: Drei Wassergräben führten das Betriebswasser zur Fabrik. Jungenthal lag in der Nähe eines einst kleinen Ortes: der heutigen Stadt Kirchen an der Sieg. Abgelöst wurde die Spinnerei in ihrer Position als nach der Spindelzahl bedeutendsten preußischen Baumwollspinnerei Ende der 1830er Jahre durch eine noch größere Spinnerei der Baumwolldynastie Jung: die Spinnerei Hammerstein, die sich im heutigen Wuppertaler Stadtteil Sonnborn befand. An der Wupper gelegen nutzte sie gleichfalls die Wasserkraft. Allerdings wurde hier vergleichsweise früh ergänzend die Dampfkraft eingeführt. In dieser Jungschen Spinnerei liefen zunächst knapp 15.000 Spindeln, später – beim Höchststand 1861 – sogar mehr als 23.000 Spindeln. Im Jahr 1856 bereits sollte Hammerstein allerdings von zwei rheinischen Aktienspinnereien in Köln und Mönchengladbach überrundet werden, die jeweils über mehr als 36.000 Spindeln verfügten.
Neben Jungenthal gab es Anfang des 19. Jahrhunderts vor allem zwei weitere bedeutende Baumwollspinnereien im Rheinland, mit denen die Jungsche Spinnerei hauptsächlich konkurrierte: Zum einen war das die Spinnerei des Kaufmanns Johann Gottfried Brügelmann bei Ratingen in der Nähe von Düsseldorf. Sie war die erste Fabrik Kontinentaleuropas und lag im Herzogtum Berg, für das Brügelmann ein landesherrliches Privileg erhalten hatte. Außer ihm durfte niemand Baumwolle maschinell im Herzogtum Berg herstellen. Seine Spinnerei wurde „Cromford“ genannt, nach dem Vorbild der Arkwrightschen Spinnerei im englischen Cromford. Zum anderen war das die Spinnerei des Johann Caspar Troost II. in Mülheim an der Ruhr, der gleichfalls Kaufmann war. Seine Spinnerei lag in der (Unter-)Herrschaft Broich, für die er von Marie Louise Albertine von Hessen-Darmstadt als Landesherrin ein entsprechendes Privileg erhalten und seine Spinnerei aus Dankbarkeit nach ihr „Louisenthal“ genannt hatte. Solche Territorialmonopole minderten das Risiko der Spinnereibesitzer in der Aufbauphase. Auch Jungenthal verfügte über ein solches Privileg, das die Familie Jung vor „Nachstellern“ in der Grafschaft Sayn-Altenkirchen schützte. Nach der Zahl der Spindeln lag Jungenthal vor den beiden konkurrierenden Betrieben Cromford und Louisenthal, war aber nicht nur aus dieser Perspektive lange Zeit Spitzenreiter im großräumig gedachten Rheinland. Auch nach der Zahl der Beschäftigten lag das Jungenthaler Unternehmen vorne. Hatte Kirchen im frühen 19. Jahrhundert kaum mehr als 400 Einwohner, beschäftigte die Familie Jung in früher preußischer Zeit 600 Mitarbeiter. Allerdings fanden diese nicht ausschließlich im Jungenthaler Spinnereibetrieb Arbeit, sondern teils auch in Zweigmanufakturen andernorts oder im Heimgewerbe im weiteren Umfeld, d.h. das Einzugsgebiet der Fabrik war in jeder Hinsicht groß. Die Spinnerei Troost – zum Vergleich – hatte nach dem Fall der Kontinentalsperre nur 200 Beschäftigte. In den 1840er und 1850er Jahren sollten „die beiden der Baumwolldynastie Jung gehörenden Fabriken in Jungenthal und Hammerstein (bei Elberfeld) mit je 400 Arbeitern die größten der Rheinprovinz“ darstellen. Zu der Zeit gab es keine Heimarbeiter mehr, sondern ausschließlich Fabrikarbeiter, die zentralisiert in Jungenthal beschäftigt waren.
Auch aus technischer Sicht gehörte das Jungenthaler Unternehmen zu den Spitzenreitern rheinischer Baumwollspinnereien: Erste von Wasserkraft getriebene Kratzmaschinen nach englischem Vorbild – sie dienten der Vorbereitung des Spinnprozesses – liefen bereits im Jahr 1800 in Jungenthal. Damit wurde der Übergang von der manufakturellen zur fabrikindustriellen Produktionsweise vollzogen. Das war vorerst aber nur partiell der Fall: Wassergetriebene Spinnmaschinen kamen erst ein paar Jahre später hinzu. Mit diesen konnte die Produktion erheblich rationalisiert und die Produktivität deutlich erhöht werden. Auch konnten damit feinere Garne hergestellt werden. Allerdings waren die beiden bedeutendsten konkurrierenden Unternehmen Brügelmann und Troost bei der maschinellen Garnproduktion vorausgeeilt. Auf dem Wege der „Industriespionage“ – neutraler „Technologietransfer“ bezeichnet – waren diese früher an die Zusammensetzung und Funktionsweise englischer Spinnmaschinen gelangt und hatten diese erfolgreich nachbauen können – mit Hilfe findiger Mechaniker. Aber auch in Jungenthal war man nicht untätig geblieben: Es gab eine Vielzahl von Reisen von Mitgliedern der Familie Jung ins In- und Ausland – bis hin nach Belgien, Frankreich und Schottland –, um sich über den Stand der technischen Entwicklung der Baumwollmaschinenspinnerei andernorts zu informieren und an neu entwickelte Maschinen und Apparate zu gelangen. Solche wurden in Deutschland noch nicht gebaut, weil es hierzulande noch keine entsprechenden „Maschinenbauanstalten“ gab. Der Maschinenbau steckte noch in den Kinderschuhen. War man anfangs noch um Industriespionage bemüht gewesen, ging es recht bald vermehrt um den gezielten Kauf von Maschinen und Apparaten früher Hersteller von Kratz- und Spinnmaschinen, die vornehmlich aus dem Elsass und aus Belgien bezogen wurden. „In den 1820er Jahren wurde das Jungenthaler Werk mit einer Produktion von 2500 Zentnern Garn pro Jahr bzw. 60 pro Woche als die bedeutendste Spinnerei der Rheinprovinz genannt“, wie Karl Emsbach in seiner großen Studie über die rheinische Baumwollspinnerei des 19. Jahrhunderts schreibt. Die nächsten Plätze – mit einer wöchentlichen Produktion von je 30 Zentnern – belegten die Spinnereien Brügelmann in Ratingen, Schulte & Friedrichs (vormals Koch, Uhlhorn & Thomas) in Grevenbroich und Troost in Mülheim/Ruhr.
Ein Blick zurück ermöglicht die Hinwendung zu einem weiteren Aspekt der Superlative: Vor dem Hintergrund der napoleonischen Kontinentalsperre, die mit dem Fall Napoleons 1813 ein jähes Ende fand, waren die Zeiten extrem günstig, weil die Engländer ihre preiswerten Gespinste nicht mehr auf dem europäischen Festland anbieten konnten. Die Familie Jung „verdiente“ das Anlagekapital für ein zweites, mehrstöckiges Spinnereigebäude binnen eines Jahres. Das legen vertrauliche Familienaufzeichnungen offen, die uns heute – als aufschlussreiche Quelle – zur Verfügung stehen. Die Summe betrug 40.000 bergische Taler, eine auch für die Zeitgenossen unvorstellbare Summe. Vergleichsweise sehr fortschrittlich war zudem, dass sich die vier Gebr. Jung nach dem Tod des Vaters 1808 die Unternehmensführung teilten. Die Beschaffung der Rohstoffe und der Vertrieb bzw. Absatz der fertigen Garne auf den Weltmärkten der Zeit, die Organisation und Überwachung der Produktion – also die technische Betriebsleitung in Jungenthal – als auch die Buchhaltung oder kaufmännische Führung der Firma lagen in unterschiedlichen Händen. Das war eine sehr frühe, wirkungsvolle Arbeitsteilung, die andernorts unbekannt war oder noch nicht praktiziert wurde. Konkret war sehr hilfreich, dass Friedrich August Jung als einer der vier Gebr. Jung seinen Sitz im Wuppertal hatte, und zwar in Elberfeld, dem wichtigsten Garnmarkt Westdeutschlands. Für starke Nachfrage sorgten die örtlichen Türkischrotfärbereien. Zu Friedrich August Jung war alsbald – im ausgehenden 18. Jahrhundert – sein jüngerer Bruder Johann Christian Jung II. gezogen, um ihm bei seinen Geschäften behilflich zu sein. Auch er gelangte mit den Jahren zu großem Wohlstand. Friedrich August Jung knüpfte als Einkäufer roher Baumwolle und Verkäufer der in Jungenthal gesponnenen Garne vielfältige Handelsbeziehungen. Was das Baumwollgeschäft betraf, so galt er als höchst erfahrener, sehr kenntnisreicher und von der preußischen Ministerialbürokratie gefragter Kaufmann. Er ging in die Geschichte des Bergischen Landes als „Taler-Millionär“ ein – ein Mann mit ungeheurem Reichtum.
Schließlich rangierte Jung in Jungenthal auch im Kontext innerbetrieblicher Sozialmaßnahmen im Rheinland ganz vorne. Das trug erheblich zum außergewöhnlichen Erfolg der Familie Jung bei. Einzigartig war beispielsweise, dass bereits um 1800 in Jungenthal eine erste Kranken- und Pensionsunterstützungskasse gegründet wurde und jahrzehntelang die einzige derartige Einrichtung des Rheinlandes war. Eine „weitere Büchse von freiwilligen Gaben“ wurde „zur Unterstützung armer Kinder angewendet“, wie es in einer zeitgenössischen Quelle heißt. Es gelang der Aufbau eines qualifizierten und sesshaften Facharbeiterstammes mit geringer Fluktuation der Arbeitskräfte.
Die Neuerscheinung fußt auf zahlreichen Vorarbeiten des Verfassers, insbesondere dessen umfangreicher Studie zum Siegerländer Textilgewerbe im 18. und 19. Jahrhundert – im Jahr 1992 vom Fach Geschichte der Universität Siegen als philosophische Dissertation angenommen. Darin wurde bereits an verschiedenen Stellen ausführlich auf die Geschichte der Baumwollspinnerei Jung eingegangen. Diese Kapitel zu einer Unternehmensgeschichte zusammen zu fassen – das war das Ziel einer neuerlichen Beschäftigung mit textiler Produktion in der Region an der Sieg, ergänzt durch eine Reihe von Abschnitten mit Ergebnissen jüngerer Forschungen, etwa zur Herkunft der rohen Baumwolle oder zu Fragen der Nutzung der Wasser- und/oder Dampfkraft zum Antrieb der Spinnmaschinen. Auch wurden andere Betriebe der Zeit in Augenschein genommen, wie etwa die 1799 gegründete Bernhardsche Baumwollmaschinenspinnerei in Harthau bei Chemnitz, eine vergleichbare Gründung in der sächsischen Textilregion. Über 150 Abbildungen befinden sich in der 220 Seiten umfassenden Studie – teils als Bildquellen zur Unterstützung bestimmter Aussagen im Text, teils als Illustrationen aus gegenwärtiger Zeit.
Aktualisiert: 2023-01-05
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