Zu dem Text "Eine neue Welt..."
Eine neue Welt, so sehr zerbrechlich entstand als Auftragswerk für die Landesbühnen Sachsen. Die Uraufführung fand unter dem Titel Das Geheimnis der blauen Schwerter fand im April 2016 am Ort des Geschehens statt: Das Stadttheater Meißen ist eine der ständigen Spielstätten der Landesbühnen.
Was den Erzählungen über Potentaten recht ist, soll denen, die die Arbeit machen – soll dem Salz der Erde nur recht sein: Wir dürfen die offiziellen Verlautbarungen hinterfragen und eine durchaus mögliche andere Geschichte hinter der Geschichte entdecken.
Porzellan, das „Weiße Gold“, war kurz nach seiner Erfindung durch Tschirnhaus und Böttger flugs zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor des sächsischen Staates geworden; der starke August, der unglaubliche Mengen Geld für seinen Appetit auf die polnische Königskrone brauchte, sahnte kräftig ab. Das Geheimnis des „Arkanums“, der Zusammensetzung der Porzellanmasse, war als sächsisches Monopol wohlgehütet und von vielen Seiten heiß begehrt. Man darf getrost die modernen Begriffe Wirtschaftssabotage – ja: Wirtschaftskrieg für das Treiben damals rund um die Meissner Manufaktur verwenden.
In den einschlägigen Werken über Werden und Wachsen der Meissner Porzellan-Manufaktur taucht in diesem Zusammenhang der Herr Arkanist Samuel Stöltzel, unser Held, als Verräter auf. War er doch unter undurchsichtigen Umständen aus Sachsen entwichen und in Wien aufgetaucht, wo er die Porzellanherstellung in der kaiserlichen Manufaktur entscheidend beeinflusste. Nicht allzu lange Zeit später aber war er wieder in Meißen zurück und bekleidete das Amt des Obermeisters – wir würden sagen: des technischen Direktors. Und einen Maler, dessen Designs den bis heute anhaltenden internationalen Ruhm des Meissner Porzellans wesentlich begründeten, hatte er obendrein mitgebracht… Seien wir Schelme, denken wir Arges!
Reizvoll an diesem Stoff war nicht zuletzt seine Grundstimmung von Vitalität und Lebensfreude. Alles scheint in diesem beginnenden achtzehnten Jahrhundert möglich: Erfindungen, Produktivität, Reichtum, Reisen, jede Art von Schlitzohrigkeit – am Ende vielleicht sogar ein bisschen Zaubern? Diese mit der Porzellanherstellung befassten Chemiker, Techniker und Künstler toben direkt unter den verwirrten aristokratischen Nasen quer durch Europa; vielfach vernetzt, entwickeln sie den neuen Werkstoff und zugleich Wissenschafts- und Handelsnetze. Da ging es doch noch aufwärts mit munterer kapitalistischer Bürgerlichkeit, die sich den absoluten Herrscher langsam, aber sicher zum Garanten des Wachstums gemacht hatte!
Kurze Anmerkung am Rande: Die Stadt Freiberg ist, sonderbar genug, als einzige der wichtigen sächsischen Städte in jedem der fünf hier vorgestellten Texte präsent. Das ist vielleicht kein Zufall. Freiberg, gegründet im 12. Jahrhundert, einer der ältesten Industriestandorte Europas – und war nie eine Residenz- oder Bischofsstadt. Riecht sie in Sachen Prinzenraub und in Sachen Christian II. unangenehm nach Hinrichtung und Tod, hat sie sich hier zum bürgerlich dominierten Verwaltungs- und Wissenschaftszentrum gemausert, in dem das Management – der vom König bestallte Oberaufseher residiert. (Nach Tod wird sie in unseren Texten noch einmal riechen, aber immerhin sind dann inzwischen mal ein paar Revolutionäre durchpassiert.)
Eine Komödie zum Thema Wirtschaftskrieg im 18. Jahrhundert schien mit diesem Stoff möglich. Und natürlich ist die Liebesgeschichte wieder einmal erfunden – die Heldin eine emanzipatorische Hoffnung.
Zu dem Text "Heubners Canapee ..."
Heubners Kanapee entstand als Auftragswerk für die Deutsche Welle. Dieser Sender feierte im Jahr 1998 den einhundertfünfzigsten Jahrestag der deutschen Revolution von 1848/49 mit einer Serie von fünf Hörspielen. „Heubners Kanapee“ war unter diesen das zuletzt gesendete, denn auch in Dresden als letzter der deutschen Hauptstädte hatte der Aufstand erst im Mai 1849 stattgefunden.
Das dem Hörspieltext zugrundeliegende Geschehen ist authentisch.
Die Revolutionäre waren geschlagen. Sie hatten in Dresden Barrikaden gebaut, Waffen organisiert und hatten geschossen: Künstler, Intellektuelle, königliche Beamte, Großbürger, Kleinbürger – und viele Arbeiter, von denen manche aus dem Erzgebirge zu den Kämpfenden kamen. Der ehemals zaristische Offizier Michail Bakunin war zu dieser Zeit eigentlich bei den Tschechen zu Besuch und mit der Einigung aller slawischen Völker beschäftigt; er stieß zufällig zu den Dresdner Kämpfern und wurde ihr gefragter militärischer Berater. Ein paar Tage lang sah es ganz gut aus für die Revolution, dann ließ der sächsische König die ansonsten erzfeindliche preußische Soldateska zu Hilfe holen, die hatte ihre Erfahrung schon in Berlin, im März 1848, gemacht… Die Revolutionäre wurden geschlagen, aber noch war der Rückzug geordnet. Erst einmal ging es ins dreißig Kilometer entfernte Freiberg, wo der Jurist Otto Leonhard Heubner, Paulskirchen-Abgeordneter und Mitglied der revolutionären provisorischen Regierung in Dresden, eigentlich königlich sächsischer Amtmann war. Nach kurzer Rast brach dann die Streitmacht der Revolutionäre wieder auf, in Richtung Chemnitz, wo sie neue Kampflinie aufbauen wollten und auf Verstärkung hofften. Sie liefen in eine Falle. Das Ergebnis: Sibirische Verbannung für Bakunin, Todesurteile, die später in hohe Festungsstrafen umgewandelt wurden, für Heubner und viele andere.
Richard Wagner beschreibt in seiner Autobiografie die kurze Zeit der Rast: Er und Bakunin saßen nebeneinander auf dem Kanapee im Hause Heubner und stärkten sich an Bemmchen (hochdeutsch: belegte Brote). Dann schlief Bakunin ein. Sein großer schwerer Kopf sank Wagnern auf die Schulter. Die Last hielt der nach einer Weile nicht mehr aus, leise machte er sich davon. Ging hinunter in die Stadt, um nach den anderen Kampfgefährten zu sehen. Als er zurückkehrte, waren Bakunin und der Hausherr Heubner bereits fort – Wagner hatte den Anschluss verpasst. Zunächst hechelte er ein Stück weit müde den Gefährten hinterher. Dann erreichte ihn die Kunde davon, was denen geschehen war... Er schlug sich seitwärts in die Büsche und bis nach Weimar durch. Dort verhalf ihm Franz Liszt, der Freund, zur Flucht nach Paris – wo der Wagner dann offensichtlich die einstigen revolutionären Ideale in den Wind schrieb und begann, in antisemitischen Ausfällen zu schwelgen…
Zweie saßen – in dem kurzen Zeitraum zwischen dem Mampfen der Bemmchen und Bakunins Schlaf – auf dem Sofa und mussten das Scheitern eines linken Projekts verarbeiten. Was da genau passierte? Wagner gibt keine Auskunft. Wir dürfen uns alles denken.
Die Ursendung des Hörspiels fand unter dem Titel Richard Wagner auf den Barrikaden im Oktober 1998 statt. In der Spielzeit 2009/10 folgte die szenische Aufführung des Textes am Ort des Geschehens: zwar nicht in der Wohnstube, aber auf dem zur Spielstätte umgebauten Dachboden des Heubnerschen Hauses, eine Produktion des Mittelsächsischen Theaters Freiberg Döbeln.
Zu dem Text "Ich, Gretchen Beier ..."
Ich, Grete Beier. Mörderin entstand als Auftragswerk für das Mittelsächsische Theater Freiberg Döbeln. Die Uraufführung fand zu den Schlossfestspielen in Freiberg im Rahmen des Projekts Zeitreise 2008 statt. Innerhalb dieses open air-Projekts, das auf mehrere Jahre angelegt war, beschäftigte sich das Theater mit jeweils einem Ereignis in der Stadt Freiberg und der näheren Umgebung, das genau ein Jahrhundert zuvor geschehen war.
Der Kriminalfall Grete Beier hatte im Jahr 1908 – weit über Sachsen hinaus – für Aufregung gesorgt. Frauenvereine meldeten sich zu Wort, Prominente engagierten sich für die Begnadigung des Mädchens, auch Kurt Tucholsky schrieb in der Weltbühne mehrfach über diese Sache. Die öffentliche Tötung einer jungen Frau mittels Fallbeil erschien vielen Zeitgenossen offensichtlich als das, was es war: Ausdruck einer bösartig frauenfeindlichen Gesellschaft. Ein Menetekel, ähnlich dem der Titanic, das von zunehmender Brutalisierung der Zustände und dem demnächst zu erwartenden Weltuntergang kündete…
Erstaunlich genug: Die ein Jahrhundert alte Geschichte ist (oder war zumindest in den Nuller Jahren unseres Jahrhunderts) in der Region noch immer präsent. Bei einer übervollen Informationsveranstaltung über das Projekt, die das Freiberger Theater im Winter 2007/08 in Brand durchführte, dem Heimatort Grete Beiers, berichteten mehrere Teilnehmer, dass sie jemand kannten, der Grete Beier noch gekannt hatte, wussten genau, was ihre Familie einst von der Sache hielt, teilten mit, welche Lokalitäten in Brand und Umgebung für die Sache wichtig und zu besichtigen seien, und ähnliches mehr… Und statt dass es bei der einen, nur für den Sommer 2008 geplanten Vorstellungsserie blieb, wurde die Aufführung wegen der großen Nachfrage bei den Schlossfestspielen der nächsten Jahre immer aufs Neue wiederholt – und zwar ausverkauft.
Sicher war es auch und gerade der lokale Bezug der Geschichte, der die Zuschauer in die Theateraufführung zog. Aber sie hat über das Jahrhundert hinweg wohl etwas von einem Mythos angesetzt: Grete Beier, die die Liebe suchte und einem Mistkerl fand, sich im tödlichen Netz patriarchalischer Zwänge und Lebenslügen verfing, schließlich in die Klauen einer menschenfeindlichen Staatlichkeit geriet – Grete Beier, eine von hier, eine von uns… Ihre Geschichte, aufregend und niederdrückend zugleich, wurde nie objektiv, wurde nie zu Ende erzählt. Und so geschah es, dass sich im Hof des Freiberger Schlosses, der einem Festungshof gleicht, die Zuschauer darauf einließen, zusammen mit den Theatermachern die Überlieferung zu hinterfragen.
Vielleicht hat Grete Beier vor mehr als einem Jahrhundert ihren Verlobten, den Herrn Oberingenieur Preßler, wirklich umgebracht – vielleicht tat sie es nicht. Sie hat den Mord bestritten, dann, nach längerer Haft, gestanden, dann das Geständnis widerrufen. Dabei gewesen, als in seiner Wohnung Schüsse fielen, ist sonst niemand. Andere Spuren oder Motive wurden nicht verfolgt. Klammern wir mal das üble Thema Todesstrafe aus – die Zusammenschau des vorliegenden Materials beweist zumindest eines: Das, was unter Rechtsstaatlichkeit und auch das, was unter moderner Kriminalistik zu verstehen ist, war dazumal ganz offensichtlich ein unbekanntes Terrain. Oder – beides war nicht gewollt.
Dieser Kriminalfall ist gut dokumentiert; überkommen sind auch sehr detaillierte Berichte und zeitgenössische Kommentare von Juristen zum Geschehen und zum Prozess – darf also mit Fug und Recht hinterfragt werden. Und da zeigt sich: Der ganze Vorgang strotzt von Ungereimtheiten und Widersprüchen.
So wurde Grete Beier des Giftmordes an ihrem Verlobten zu einem Zeitpunkt angeklagt, als die Leiche längst eingeäschert war, selbstredend ohne Obduktion; der Verdacht einer Vergiftung tauchte erst Wochen nach dem Todesfall bei einem Staatsanwalt auf. Vorher hatten sie nichts als eine junge Frau, die wegen zweier Eigentumsdelikte und einer Abtreibung einsaß. Und sie hatten eine Leiche mit einem tödlichen Schuss, der sah zunächst nach einem Selbstmord aus. Nach einem Pistolenschuss: Seit Beginn des 20. Jahrhunderts war in Europa das Fingerabdruckverfahren für den Täternachweis bekannt; es wurde bei der Pistole, die den unglücklichen Bräutigam tötete, nicht angewendet. Noch mehr Ungenauigkeiten: Statt eines exakten Vergleichs zwischen zwei Schriftstücken zur Überführung der Täterin lieferte ein Graphologe eine Charakteranalyse, die selbstverständlich sehr zu Ungunsten Grete Beiers ausfiel. Und der angeblich sachverständige Psychiater, nach der möglichen Anwendung des Paragraphen 51 (Zurechnungsfähigkeit) befragt, bescheinigt der Angeklagten ob ihrer „sexuellen Ausschweifungen“ „moralische Minderwertigkeit“…
Es gibt ein sehr merkwürdig anmutendes Selbstzeugnis der Delinquentin, das sie als Person erscheinen lässt, die ihr Leben und ihre akute Lage durchaus reflektieren konnte und in dem sie sehr ausführlich über ihre Gemütslage und reineweg gar nichts über die ihr zur Last gelegte Tat berichtet. Ein Dokument, das den Realitätsverlust, eher: die Realitätsabweisung und die romantische Verblendung als Lebenselement, eher: als Todeselement des fatal beschränkten bürgerlichen Daseins nachweist. Das gute Mädchen spinnt, fantasiert sich mitten hinein in eine Traumwelt – die Traumwelt einer „höheren Tochter“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts. (Einige Originalzitate haben in den Theatertext Eingang gefunden.) Der emanzipatorische Siegeszug der Moderne – oder auch: des Kapitalismus, oder auch: der bürgerlichen Zivilgesellschaft – herabgekommen in den sterbenselenden, tödlichen Mief des Kleinbürgeralltags…
Wenn wir schon über den wie auch immer kriminellen Vorgang selbst nichts Genaues wissen, so zeichnet doch bei der Beschäftigung mit den Ereignissen die Kontur einer bestürzenden Erkenntnis ab: Ja, wir Gegenwärtigen kommen aus dunklen Zeiten fragwürdigster Geschlechterverhältnisse und einer völlig verkorksten frauenfeindlichen Sexualmoral – und so lange und so viel Generationen ist das noch nicht her…
Bis heute – vom Wikipedia-Eintrag über TV-Dokumentationen bis zu sich dokumentarisch gebenden Kriminalromanen aus den Siebziger oder den Zehner Jahren – positioniert sich die veröffentlichte Meinung uni sono gegen Grete Beier. Lügnerin, Verbrecherin, vor allem: eine von ihren bösen geschlechtlichen Lüsten Getriebene – schreiben die alle voneinander ab? Ist das Urteil eines Königlich Sächsischen Gerichts gültig und bindend bis heute und in die Ewigkeit? Dominiert – entgegen anders lautender Behauptungen – im öffentlichen Diskurs immer noch Frauenfeindlichkeit und Verachtung der weiblichen Sexualität? Das sind so Fragen…
Julia, die Darstellerin der Grete in der Uraufführung, hat ihre Figur entschlossen verteidigt. Nicht einen (durchaus ja möglichen) Mord – aber die Verwirrung, die Verstörung, die vergeblichen und mörderischen Sehnsüchte einer jungen Frau auf ihrem an Fallgruben reichen Weg ins Leben. Nicht zuletzt so etwas ist die Aufgabe von Theater – die Begegnung der Zuschauer mit dem eigenen Selbst, mit den eigenen Wurzeln zu gestatten. Zu provozieren.