Das Ende muss nicht das Ende bedeuten. Die 59. Ausgabe des CINEMA-Jahrbuchs untersucht das Film-Ende narratologisch, film- und kinogeschichtlich, ästhetisch und auf technische Fragestellungen hin. Der Schriftsteller Catalin Dorian Florescu, ein passionierter Filmrezipient, hat eine Art Typologie von Film-Enden erstellt – ihm zufolge gibt es nicht nur das versöhnliche, das pessimistische, das optimistische, das verschlüsselte, das missratene oder das ultrakurze Ende, sondern auch das trotzige, das taube, das geflüsterte, das beiläufige oder das persönliche Ende. Mit dem Ende eines Films können markante ästhetische Signale gesetzt, Erzählkonventionen unterwandert oder umspielt werden. Wie das Schwarzbild als Scharnier zwischen imaginärem diegetischem und realem Kinoraum fungiert, behandelt Simon Koenig, während Gina Bucher der Frage nachgeht, was die digitale Zeitenwende für das Film-Ende bedeutet. Verschiedene Genres und Epochen weisen Konventionen auf, was den Schluss betrifft, und wie immer können diese erfüllt oder verweigert werden. Und beides kann derart missglücken, dass das Ende rückwirkend gar den Film ruiniert. Opernhafte Ansätze, bühnenhaft entfaltete Schlussinszenierungen macht Hans J. Wulff in seinem Beitrag über versöhnliche oder aber tragische Enden in Filmen aus, und Johannes Binotto zeigt auf, wie insbesondere das Happy End von bestimmten Regisseuren nicht im üblichen Sinne eingesetzt wird, sondern zum Krisensymptom mutiert. Besonderen, überraschenden Film-Enden, der Geschichte und der Wirkung sogenannter 'Twist Endings', widmet sich Willem Strank. Das Spannungsverhältnis zwischen realer Historie und filmischer Narration und Verdichtung, die Grenzen zwischen Film und Geschichtsvermittlung macht Rasmus Greiner zum Gegenstand seiner Erörterung, während Ulrike Hanstein und Patrick Straumann filmische Visionen von Apokalypsen thematisieren und die Aporie beleuchten, die diese Filme ihrer Produktion auferlegen. Die Darstellung von Zeit und ihrer Intensivierung bzw. (scheinbare) Aufhebung oder Implosion im Zeitmedium Film wird aber auch in Filmen deutlich, die sich mit Alzheimer-Demenz befassen, wie Felix Lieb in seinem Beitrag vorführt.
Mit Beiträgen von Jorrit Bachmann und Maria Suhner, Johannes Binnotto, Daniel Bosshart, Gina Bucher, Thomas Christen, Catalin Dorian Florescu, Rasmus Greiner, Ulrike Hanstein, Simon Koenig, Felix Lieb, Willem Strank, Patrick Straumann, Senta van de Weetering, Hans J. Wulff.
Aktualisiert: 2022-01-17
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Was ist am Film nicht Manipulation und Verzerrung, wenn das Medium per se doch die Wahrnehmung der Wirklichkeit stark beeinflusst und gar verändert? Verstanden als Kunstgriff, als gezielte und meist verdeckte Einflussnahme, als bewusste oder unbewusste Steuerung des Filmerlebens, spielt Manipulation beim Film immer mit. Die Bandbreite der Eingriffsmöglichkeiten erstreckt sich von der Wahl der ästhetischen Bildgestaltung bis hin zur Frage, mit welcher Technik und welchen Verfremdungseffekten gearbeitet wird. Sie umfasst auch basale Entscheidungen der Filmproduktion wie die Auswahl der gefilmten Momente in der Entstehung eines Dokumentarfilms. Es kann sich sowohl um die Verdichtung oder Zuspitzung einer Handlung im Drehbuch handeln, als auch um dramaturgische Entscheidungen und die Kreation von Filmfiguren. Verstanden werden darunter die groben Gesten der historischen Fakten-Jonglage, wie im Fall des Dokumentarfilmmatadors Michael Moore, oder subtilere Überzeugungstechniken der subliminalen Art – man denke an das Einfügen von Einzelframes mit Cola-Flaschen, die das Durstlöschen in der Pause unbemerkt in die richtige Richtung lenken sollten. Grundsätzlich wollen wir ja beeinflusst werden, emotional berührt sein und in erdachte Welten eintauchen. Nur zu gerne wollen wir uns unterschwellig von der musikalischen Begleitung gefühlsmäßig leiten lassen. Und ist es für uns als Zuschauer nicht gar besonders lustvoll, zuerst mit allen Mitteln dieses äußerst manipulativen Mediums in die Irre geführt zu werden, um uns später am eigenen reflexiven Aha-Erlebnis zu erfreuen?
In CINEMA 58 stehen Manipulationen im Zentrum, die sich auf zahlreichen Ebenen im Film und um ihn herum präsentieren. Dass sich Manipulation nämlich nicht nur auf die Rezeption von Filmen beschränkt, sondern etwa auch die Geschichtsschreibung erfasst, zeigt Wolfgang Fuhrmann anhand des ethnographischen Films. Die unterhaltsame und lehrreiche Seite des Spiels mit den Zuschauern entdeckt Bettina Spoerri in der Inszenierung von Metafiktionen über sechzig Jahre hinweg, von Henry C. Potters Hellzapoppin bis hin zu Spike Jonzes Adaptation. Mehrere Essays widmen sich kritisch der Wirkung und Beeinflussung der Wahrnehmung. So spielt der fiktionale Film gern mit Erwartungen, die zu Überraschung und Verblüffung des Publikums führen (Sarah Greifenstein und Hauke Lehmann), was aber auch Enttäuschung hervorrufen kann, wenn Genrekonventionen unterlaufen werden (Bernd Leiendecker).
Gleich zwei Aufsätze haben den Aufklärungsfilm der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Thema: Anita Gertiser geht der Frage nach, wie man in der Schweiz in den 1930er Jahren über die Mit-Scham mit einer Figur Krankheitsvorsorge zu betreiben versuchte, und Ramón Reichert setzt sich mit Bildmanipulationen in den US-amerikanischen Filmen der Sex Education auseinander. Einer der Schwerpunkte der Auseinandersetzung in dieser Ausgabe liegt denn auch im heiklen Verhältnis des Dokumentarfilms zur Wirklichkeit. Wie sich beispielsweise Zeugen instrumentalisieren lassen, um Authentizität und Wahrheitsgehalt zu untermauern, prüft Seraina Winzeler, während Martin Walder seinem eigenen Unbehagen auf den Grund geht, warum ihn als Zuschauer von Fernand Melgars Vol spécial ein latentes Gefühl des Manipulationsversuchs beschleicht. Es überrascht wohl kaum, dass auch politische Propaganda, wie sie seit den 1930er Jahren im Kino betrieben wurde und sich nun eher auf den Fernsehbildschirm verlagert hat, in den Blick gerät: bei der Untersuchung vom massenbildenden Potenzial bis zur Formation zum homogenen Volkskörper in Leni Riefenstahls Olympia (David Ratmoko) und der Analyse der amerikanischen Kriegsberichterstattung (Rasmus Greiner).
Auch die sonore Seite der audiovisuellen Kunstgriffe fehlt nicht: Sie wird in den Momentaufnahmen präsentiert, in denen uns die 'Manipulatoren' selbst, in diesem Fall die Filmmusiker, einen Einblick in die Kunst der emotionalen Führung geben. Die produktiv eingesetzte Beeinflussung ermöglicht uns Zuschauern die Wahrnehmung anderer Zustände, anderer Welten. Erst die Verzerrung als Verfremdung kann überhaupt zur intensiven, bewussten Betrachtung des Alltäglichen führen und einen anderen Blick auf die Welt bieten.
Aktualisiert: 2022-01-17
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