Im Arbeitstagebuch zu seiner jüngsten Oper L’UPUPA ODER DER
TRIUMPH DER SOHNESLIEBE1 reflektiert Henze einmal mehr ein
zentrales Thema seines Lebens, nämlich die besondere Rolle, die für ihn der Künstler in einer von Finsternis und Gewalt beherrschten
Gegenwart einnimmt:
'Wieder entsteht einem der zutreffende Eindruck, daß
Sperrfeuer, Menschenverachtung, Tortur, Gewalt [.] unser
Leben von Anfang an begleitet haben [.]. Es gab immer ein
wenig Hoffnung, menschliches Streben, menschliche
Bemühungen, und einige unter uns, Maler, Dichter,
Komponisten, sahen und sehen es als ihre Aufgabe an, neue
Konzepte zu entwerfen, um damit die im Dunkel der Gezeiten
dahindämmernden Paradiese aufleuchten zu lassen [.]. So
kommt es zu diesen neuen Hirtenliedern, Eklogen und
Dithyramben, in denen märchenhaft Vergangenes sein
Vokabular neu entfalten mag, um sich [.] an unserer
Gegenwart zu messen und unserem elendig verarmten Dasein
ein wenig aufzuhelfen aus der bittersten Not.'
Auch im Jahre 2003 gilt Henzes schmerzliche Sehnsucht jenen
'dahindämmernden Paradiesen', in denen die Schönheit nicht zu
Flucht und Exil verurteilt ist. Die Künstler sind die besonderen
Menschen, mit der Gabe beschenkt (und beladen), dieses utopische
Reich 'aufleuchten' zu lassen und es damit in unsere Gegenwart zu
holen.
Genau jene Vision gewinnt bereits in seiner dritten, 1960 uraufgeführten Oper DER PRINZ VON HOMBURG3 nach Heinrich von Kleist Die Uraufführung (Regie: Dieter Dorn, Musikalische Leitung: Markus Stenz) fand am 12. August 2003 bei den Salzburger Festspielen statt.
Hans Werner Henze: L’Upupa. Nachtstücke aus dem Morgenland. Autobiografische Mitteilungen. München 2003, S. 15-16.
Die Komposition entstand in den Jahren 1957-59 in Neapel. Die Uraufführung
(Regie: Helmut Käutner, Musikalische Leitung: Leopold Ludwig)
fand am 22. Mai 1960 an der Hamburgischen Staatsoper statt.
XII
Zentrale Bedeutung: Kleists zwischen Schwärmerei und Offizierstugend hin- und hergerissener und beinahe zer-rissener Prinz wird bei Henze zur reinen Künstlergestalt. Am Ende der Oper steht das Idealbild einer Gesellschaft, die den keiner Norm entsprechenden Außenseiter, den empfindsamen und exaltierten Nachtwandler, voller Liebe in ihre Mitte holt und seinen besonderen Wert anerkennt, ja versteht, daß es gerade die zunächst suspekten, von der Regel abweichenden Züge sind, die diesen Wert ausmachen. Diese besondere Kleist-Lesart des Komponisten wird vor allem durch die Musik getragen, die Henzes Botschaft weit über das von Ingeborg Bachmann eingerichtete Libretto hinaus transportiert: Die Musik erfüllt nicht immer ›nur‹ die Funktion, die textliche Aussage zu unterstreichen. Ebenso erschafft sie, zusätzlich zum Text, weitere, andere, womöglich gar der Kleistschen Vorlage widersprechende Aussagebereiche. Eine interpretierende Annäherung an die Oper tut aus diesem Grunde gut daran, nicht abstrakte musikalische Analyse zu betreiben, sondern sollte den semantischen Gehalt von Henzes kompositorischen Verfahren in den Mittelpunkt stellen und diese zu
den Inhalten des Kleistschen Dramas in Beziehung setzen. Der Sinn
dieser Art der Interpretation wird sich besonders von dem Punkt ab
erweisen, an dem die Oper sich von der Kleistschen Vorlage zu entfernen beginnt. Die semantische Analyse der musikalischen Dramaturgie vermag vom II. Akt an zu zeigen, daß Henze durch seine Komposition dem Verlauf der Handlung einen gänzlich anderen Akzent zu geben vermag, als das Kleistsche Drama ihn vorgibt.
Obwohl Henze in seiner Oper auch die Zwölftontechnik einsetzt, ist
der PRINZ VON HOMBURG nichts weniger als eine Zwölfton-
Komposition im dogmatischen Sinne. Henze bedient sich vielmehr
eines eklektischen Kompositionsverfahrens, in dem er verschiedene
Satztechniken miteinander kontrastiert: Neben den zwölftönig und
kontrapunktisch angelegten Passagen steht beispielsweise die Anwendung terzgeschichteter Akkorde in oberstimmenorientierten Abschnitten, die sein unverkrampftes Verhältnis zur musikalischen
Tradition bezeugen. Dementsprechend soll eine detaillierte Analyse
der zwölftönigen bzw. seriell determinierten Passagen des Werkes
nur dort erfolgen, wo die Anwendung dieser Technik für die musikalische Dramaturgie des PRINZEN VON HOMBURG Bedeutung gewinnt, wo sie für die Vermittlung der dramatischen Gehalte der Oper konstitutiv wird. Der Einsatz avancierter oder traditioneller Kompositionstechniken dient Henze nämlich vorrangig zur Schaffung wirkungsvoller musikalischer Kontraste, die die Gegensätze des Dramas widerspiegeln. Diese eklektische Vorgehensweise trug ihm – ebenso wie die Wahl des Sujets aus dem Bereich der ›klassischen‹ Literatur – den Spott und die Kritik der radikalen seriellen Avantgarde der damaligen Zeit ein: Pierre Boulez beispielsweise führte noch 1967 die Oper als abschreckendes Beispiel für eine überholte Konzeption
von Musiktheater an. Die musikalische Faktur des PRINZEN VON
HOMBURG kann in der Tat als paradigmatisch für Henzes damalige
Auseinandersetzung mit der musikalischen Tradition einerseits und
den neuesten Tendenzen der Avantgarde andererseits gelten.
Während Ingeborg Bachmanns Libretto schon häufiger der Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen war, existiert zu Hans Werner Henzes Oper bisher nur eine eigenständige Studie: Diether 'Henzes Produkte sind wahrhaftig keine modernen Opern. Ich denke da immer an einen lackierten Friseur, der einem ganz oberflächlichen Modernismus huldigt. Henzes ›Prinz von Homburg‹ zum Beispiel ist ein unglücklicher Aufguß von Verdis ›Don Carlos‹ – von seinen anderen Opern ganz zu schweigen.' (Pierre Boulez: 'Sprengt die Opernhäuser in die Luft!' Spiegel-Gespräch mit dem französischen Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez. In: Der Spiegel 21 (1967), Nr. 40, S. 166.)
Aus diesem Grunde wird sich die Betrachtung des Librettos auf einige zentrale Aspekte der Umarbeitung konzentrieren. Auf folgende Analysen des Librettos sei hingewiesen: Karen Achberger: Ingeborg Bachmann’s ›Homburg‹-Libretto: Kleist between Humanism and Existentialism. In:
Modern Austrian Literature. Journal of the International Arthur Schnitzler Research Association 12, 1979. – Thomas Beck: Bedingungen librettistischen Schreibens.
Die Libretti Ingeborg Bachmanns für Hans Werner
Henze. Würzburg 1997. – Petra Grell: Ingeborg Bachmanns Libretti.
Frankfurt / Main 1995. – Hans Joachim Kreutzer: Vom Schauspiel zur Oper. Ingeborg Bachmanns Libretto für Hans Werner Henzes ›Der Prinz von Homburg‹, in: Ders.: Obertöne: Literatur und Musik. Würzburg 1994, S. 217-261. – Hans-Jürgen Schlütter: Ingeborg Bachmann: Der Prinz von Homburg. Akzentuierungen eines Librettos. In: Sprachkunst VIII (1977),
S. 240-250. – Kapitel zum PRINZEN VON HOMBURG in: Katja Schmidt-Wistoff: Dichtung und Musik bei Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze. Der ›Augenblick der Wahrheit‹ am Beispiel ihres Opernschaffens.
München 2001, S. 87-152. – Olaf Thelen: Der Traum des singenden
Prinzen von Homburg. Aspekte der Librettistik am Beispiel des
Textbuches von Ingeborg Bachmann. Zu Hans Werner Henzes Oper ›Der
Prinz von Homburg‹. In: Heilbronner Kleist-Blätter 4 (1998), S. 18-52.
de la Mottes Analyse HANS WERNER HENZE. DER PRINZ VON
HOMBURG. EIN VERSUCH ÜBER DIE KOMPOSITION UND DEN KOMPONISTEN entstand bereits im Uraufführungsjahr 1960.6 Anmerkungen zu Henzes Oper finden sich darüber hinaus in Thomas Becks Studie zu Ingeborg Bachmanns Libretti; sie bilden aber weitgehend eine Paraphrasierung von de la Mottes Ausführungen. Christian Bielefeldt befaßt sich im Kapitel zum PRINZEN VON HOMBURG in seinem Buch HANS WERNER HENZE UND INGEBORG BACHMANN: DIE GEMEINSAMEN
WERKE. BEOBACHTUNGEN ZUR INTERMEDIALITÄT VON MUSIK UND
DICHTUNG (2003) – dessen Ergebnisse in der vorliegenden Studie
nicht mehr im Detail berücksichtigt werden konnten – unter anderem mit den von Henze in seiner Oper verwendeten seriellen Techniken und ihrer dramaturgischen Bedeutung, der Beziehung zwischen Kleists Verssprache und Henzes Musik sowie formalen Aspekten der HOMBURG-Musik. Die Analyse einiger Stellen der ersten Szene der Oper bietet Katja Schmidt-Wistoff in ihrer Darstellung DICHTUNG UND MUSIK BEI INGEBORG BACHMANN UND HANS WERNER HENZE (2001). Auch Petra Grell kommt in ihrem Buch INGEBORG BACHMANNS LIBRETTI mitunter auf Henzes HOMBURG-Musik zu sprechen, ebenso wie Olaf Thelen in seiner Analyse des Librettos. Weiterhin erschien 1998 ein Aufsatz von J. J. Gordon mit dem Titel INTRODUCTORY REMARKS TO HENZE’S OPERA ›DER PRINZ VON HOMBURG‹7, in dem jedoch gleichfalls nur ein Überblick gegeben wird. Einige Bemerkungen zum Thema macht auch Peter Petersen in seinem Text ›PRINZ‹ UND ›LORD‹ – HENZES ARBEIT MIT INGEBORG BACHMANN.
Diether de la Motte: Hans Werner Henze. Der Prinz von Homburg. Ein Versuch über die Komposition und den Komponisten. Mainz 1960. In sehr konzentrierter Form hat de la Motte seine Ergebnisse zudem in der Zeitschrift MELOS veröffentlicht (Diether de la Motte: Marginalien zur Homburg-Partitur. In: Melos 27 (1960), S. 138-140). Für das vorrangige Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie sind de la Mottes Ergebnisse nur bedingt verwendbar. Während beispielsweise seine Überlegungen zur musikalischen Charakterisierung der Figuren bedenkenswert sind, führen
die akribischen Analysen von zwölftönigen Satzstrukturen für das hier verfolgte Ziel oftmals ins Abseits. De la Mottes Ausführungen zu Henzes Oper sollen im folgenden immer wieder herangezogen werden, ohne jedoch deren grundsätzliche Zielrichtung zu übernehmen.
In: Beiträge zur Kleist-Forschung. Frankfurt / Oder 1998, S. 167-186.
In: Peter Petersen: Hans Werner Henze. Ein politischer Musiker.
Hamburg 1988, S. 55-69.
XV
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Die vorliegende Studie entstand im Jahr 2000 als Magisterarbeit im
Fach Musikwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Frankfurt am Main. Mein Dank gilt allen, die das Entstehen
dieses Buches, das für den Druck nochmals gründlich überarbeitet
wurde, begleitet haben; allen voran Frau Dr. Ulrike Kienzle, die ich
während der Phase der Überarbeitung als sehr engagierte Herausgeberin erlebt habe. Gemeinsam mit Herrn Dr. Thomas Lindner gab sie mir manche wertvolle Anregung und stand mir stets mit Rat und konstruktiver Kritik zur Seite. Herr Privatdozent Dr. Wolfgang Krebs, der Betreuer meiner Magisterarbeit, hat die Entstehung dieser Studie mit einem Engagement begleitet, das nicht genug gewürdigt werden kann und überdies die Idee einer
Veröffentlichung zuerst ins Spiel gebracht. Dafür und für alles, was
ich bereits während des Studiums bei ihm gelernt habe, möchte ich
ihm herzlich danken.
Den Anteil, den meine Familie an der vorliegenden Arbeit hat, kann
ich hier kaum in wenigen Worten zum Ausdruck bringen. Das
Vertrauen, das meine Eltern stets in mich gesetzt haben, und nicht
zuletzt ihre immer ohne Aufhebens gewährte Hilfe während meiner
gesamten Studienzeit haben mir dieses Buch ermöglicht. Ein besonderer
Dank gilt meiner Mutter, die mir in den letzten Wochen der
Überarbeitung oftmals den Rücken freigehalten hat, so daß ich mich
auf den PRINZEN VON HOMBURG konzentrieren konnte. Tony sei
gedankt für ihr sonniges Lächeln, das das Wetter immer wieder hat
schön werden lassen. Und schließlich danke ich Christoph für das
perfekte Mannschaftszusammenspiel im bisherigen Turnierverlauf.
Ohne ihn wäre nicht nur dieses Buch niemals möglich gewesen.
Ich hoffe, daß ich mich bei allen, die mich bei der Überarbeitung und Endkorrektur des Textes sowie der Herstellung der Druckvorlage unterstützt haben, irgendwann für ihre Hilfsbereitschaft revanchieren
kann. Einstweilen sei ihnen dafür ein herzlicher Dank
ausgesprochen: Knut und Christoph Benkert, Micong Klimes und
Burkart Mönch, Peter Förger, Alexander Preiß und Hans-Jürgen
Fickel-Schatz vom Are Musik Verlag Mainz.
XVI
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Für die Analyse wurde folgendes Material herangezogen: Neben
Ausgaben der Texte von Kleist und Bachmann wurden vor allem
die beiden Partituren des PRINZEN VON HOMBURG benutzt: die der
Erstfassung aus dem Jahr 1960 und die der revidierten Fassung von
1991, für deren Überlassung ich dem Verlag Schott Musik
International, Mainz, herzlich danke. Die beiden Partituren sind
takt- und seitengleich; auf für die Analyse bedeutsame Abweichungen wird an den entsprechenden Stellen hingewiesen.
Ferner wurde der Klavierauszug von Walter B. Tuebben verwendet,
in dem sowohl die Erstfassung als auch die revidierte Fassung
enthalten sind. Die Notenbeispiele sind – bis auf einige wenige Zitate aus der Partitur – dem Klavierauszug entnommen.