Im heutigen Gailingen sind nur noch tote Zeugen der ehemaligen blühenden jüdischen Gemeinde vorhanden:
Der grosse, am Waldrand gelegene Friedhof, eine Gedenktafel am Platz der ehemaligen Synagoge, das als Altenpension jür den Landkreis Konstanz dienende "Friedrichsheim ", das Gebäude des ehemaligen jüdischen Krankenhauses an der Dörfiinger Strasse, einzelne Patrizierhäuser im alten Ortskern, vor allem in der Rheinstrasse und eine Gedenktafel im Rathaus, die auf die jüdische Geschichte der Gemeinde hinweist.
Was ist aus den Menschen geworden, die in diesen Häusern gewohnt haben, wie haben sie gelebt, wie hat das Gemeindeleben ausgesehen, als sie noch daran teilnahmen?
Als Neu-Gailinger haben wir 1978 begonnen, diesen Fragen nachzugehen. Wir fragten zunächst die älteren Einheimischen nach ihren Erinnerungen aus der Zeit des Zusammenlebens mit ihren jüdischen Nachbarn.
Über die Zeit bis zum Beginn der Nazi-Ara erhielten wir reichlich Auskunft, wenn aber das Gespräch auf die Jahre zwischen 1930 und 1940 kam, wurden die Erinnerungen spärlich und die Erzähllust nahm ab. Uns wurde der Eindruck vermittelt, als sei mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten das Böse wie eine fremde, unwiderstehliche Macht über das zuvor friedvoll-harmonische Gemeindeleben hereingebrochen.
In welcher Weise hat sich nun die nationalsozialistische Judenverfolgung in Gailingen ausgewirkt?
Wir kamen dieser Frage in entscheidender Weise näher durch unsere Bemühungen, mit Überlebenden der ehemaligen jüdischen Gemeinde und deren Familienangehörigen in Kontakt zu kommen. Nicht von ungefähr geschah das über die Gräber des jüdischen Friedhofes, wo wir vor allem bei der alljährlich eine Woche vor Beginn des jüdischen Neujahrsfestes stattfindenden Gedenkfeier, unsere ersten Bekanntschaften machten. Unser Interesse fand freundliche Resonanz und tatkräftige Unterstützung. Der Friedhof war und ist für die ehemaligen Gailinger Juden und ihre Angehörigen aus der Schweiz, aus Israel, den USA und anderen Ländern meist der Bezugspunkt und Anlass zum Besuch der alten Heimat.
Wir möchten uns für die Offenheit und das Vertrauen bedanken, mit dem uns begegnet wurde. Durch die Gespräche und anvertrauten schriftlichen Unterlagen in Form von Tagebuch-Aufzeichnungen, Memoiren und Berichten ist uns ein Stück der deutschen und Gailinger Vergangenheit greifbarer und realer geworden. Um eine Vorstellung von der Blütezeit der jüdischen Gemeinde zu bekommen, haben wir uns auch um eine Rekonstruktion des Gemeindelebens von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bemüht. Ein brauchbares Mittel hierfür schienen uns die Ortsbereisungs-Protokolle des Bezirksamtes Konstanz zu sein.
Mit der Wiedergabe der folgenden Dokumente, Photos, Tagebuch-Aufzeichnungen und Berichte hoffen wir, einen lebendigen und informativen Beitrag zu leisten, durch den sich der Leser ein Bild vom jüdisch-christlichen Gemeindeleben in der zweiten Hälfte des 19. sowie am Anfang des 20. Jahrhunderts machen kann. Viel liegt uns daran, den Einfluss und die Auswirkungen der nationalsozialistischen Rassenideologie auf das Alltagsleben der Gailinger Juden sichtbar werden zu lassen, die Eskalation der Dehumanisierung von zeitweisen oder dauerhaften Einschränkungen über die Vertreibung bis zu Deportation und Mord.
Aktualisiert: 2023-04-27
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Am 22. Oktober 1990 jährte sich zum fünfzigsten Mal ein Ereignis, das zu den traurigsten Kapiteln der südwestdeutschen Landesgeschichte zählt. An eben diesem Oktobertag des Jahres 1940 wurden insgesamt 6500 jüdische Mitbürger aus Baden, der Pfalz und dem Saarland in das Internierungslager Gurs im damals noch unbesetzten Teil Frankreichs (Vichy-Frankreich) verschleppt. Diese von den NS-Gauleitungen von Baden und der Saarpfalz generalstabsmäßig geplante und durchgeführte Verschleppungsaktion markierte den Beginn der systematischen Judendeportationen durch die Nationalsozialisten, mit denen - als erster Schritt zur 'Endlösung der Judenfrage' - das Ziel verfolgt wurde, das Deutsche Reich 'judenfrei' zu machen.
Dem an der Universität Konstanz Soziologie lehrenden Prof. Erhard R. Wiehn sowie dem kleinen, auf Judaica spezialisierten Konstanzer Hartung-Gorre Verlag ist es zu danken, dass zu diesem erschütternden Ereignis der jüngeren Geschichte Südwestdeutschlands nunmehr eine umfassende geschichtswissenschaftliche Analyse und Dokumentation vorliegt.
Der Herausgeber sowie Paul Sauer, dessen 1968 erschienene Pionierstudie über die Schicksale der jüdischen Bürger Baden-Württembergs während der nationalsozialistischen Verfolgungszeit 1933 bis 1945 nach wie vor Standard setzende Bedeutung hat, beschreiben in zwei einleitenden Beiträgen die Oktoberdeportation von 1940 als ein Ereignis, dem im Gesamtrahmen der nationalsozialistischen Judenverfolgung ebenso wie dem Novemberpogrom von 1938 ('Reichskristallnacht') eine archimedische Bedeutung zukommt, insofern nämlich, als hiermit ein entscheidender Schritt unternommen wurde von der 'bloß' rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Diskriminierung der jüdischen Mitbürger zur physischen Vernichtung des Judentums. Deutlich wird, dass mit der Deportation der badischen und saarpfälzischen Juden in das südfranzösische Internierungslager Gurs im Oktober 1940 endgültig die Weichen für die 'Endlösung der Judenfrage' gestellt wurden.
Eine Reihe von lokalhistorischen Studien und Augenzeugenberichten über den Ablauf der Deportationsaktion in Heidelberg, Singen, Mannheim, Karlsruhe, Pforzheim, in denen viele Einzelschicksale auf eindringliche und authentische Art ins Blickfeld gerückt werden, offenbaren dabei in aller Eindringlichkeit das unvorstellbare Leid, das den von der Deportation betroffenen Menschen zugefügt wurde. Mit noch größerem Nachdruck vermittelt sich dem Leser die Unmenschlichkeit der Verschleppungsaktion, wenn er die zahlreichen, zumeist aus der authentischen Leidensperspektive von unmittelbar Betroffenen geschriebenen Berichte über das Leben und den Überlebenskampf der Deportierten im Internierungslager Gurs liest. Das Grauen der 'Hölle von Gurs' wird dabei buchstäblich lebendig, wenn hier die katastrophale Ernährungslage, die völlig unzureichende medizinische Versorgung sowie die unvorstellbar schlechten, hygienischen Verhältnisse, die den Alltag des Lagerlebens bestimmten, weniger im Stile einer nüchternen historischen Bestandsaufnahme, sondern vorwiegend aus dem Blickwinkel von denjenigen beschrieben werden, die diese 'Vorstation von Auschwitz' überlebt haben.
Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der umfängliche, auf über 400 Seiten angelegte Dokumentationsteil, der in einer Vielzahl von Einzeldokumenten (staatliche Erlasse, Presseartikel, Briefe von Lagerinsassen etc.) die Geschichte der Oktoberdeportation und ihrer schrecklichen Folgen vor allem auch im Hinblick auf konkrete Einzelschicksale nachvollziehbar macht und dabei die zynische Planrationalität der nationalsozialistischen Judenpolitik im Vorfeld von Auschwitz offenlegt.
Im Vorwort äußert der Herausgeber die Hoffnung, dass mit diesem Band eine ebenso vielseitige wie würdige Gedenkdokumentation zustande gekommen ist, deren Zweck es ist, an· die Opfer und ihre Peiniger zu erinnern und noch 50 Jahre danach daraus zu lernen. Das vorliegende Buch löst diesen Anspruch ein, weshalb zu wünschen ist, dass es möglichst viele Leser findet.
Aktualisiert: 2020-03-17
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