Autor: Anja Heitmüller

VORWORT Warum ein Buch über Unterlüß? Ein Dorf, das mich 40 Jahre lang nicht interessierte, als Wochenend-Reiseziel im Ablauf der Jahrzehnte eher Pflicht war als Kür? Die Neulüßer Straße ein Ort für Familientreffen, nicht mehr und nicht weniger. Unterlüß. Zentrum des Lebens in meinen ersten 18 Jahren. Einschulung und Konfirmandenunterricht, Sommer mit Bickbeersammeln, Schützenfest und Allwetterbad, Winter mit Artos-Weihnachtsfeiern und Rodeln im Wald, Realschulabschluss und Abitur in Hermannsburg. Den Alltag erhellten Handballspiele im TUS Unterlüß und Jungschar- und Jugendtreffen bei „ Tante Lilli“ in der ev.-freikirchlichen Gemeinde. Meine Freude an pädagogischer Arbeit und meinen Glauben an das Göttliche entdeckte ich dort. Mit fliegenden Fahnen und großem Fernweh verließ ich Unterlüß 1980 nach dem Abi, suchte sehnsüchtig das Leben und die Fremde. Mein Dorf verschwand geräuschlos in der Vergangenheit, abgeschüttelt, vergessen, belanglos. Selten kurze Besuche bei meinen Eltern, die dreizehn Umzüge in den ersten zehn Jahren klaglos unterstützten. Studium, Auslandsaufenthalte, Heirat, ein Leben für die Schule in Barsinghausen und Wennigsen bei Hannover, Scheidung, Neuanfang auf Rügen, Heirat, Geburt zweier Kinder, Aufbau der Freien Schule Rügen. Unterlüß tauchte unerwartet wieder in meinem Bewusstsein zu Beginn der Pandemie 2020 auf. Mein Vater stürzte in der Nacht, ein Beinbruch. Krankenhaus ohne Kontaktmöglichkeiten, meine Mutter allein zu Haus. Zahllose Autofahrten auf geisterhaft leeren Corona-Straßen von Rügen nach Unterlüß und zurück. Corona-Lockdowns schenkten mir Zeit in Unterlüß. Mein Vater hatte das Fahrrad übergangslos durch einen Rollstuhl ausgetauscht, wurde zum Pflegefall. Zwischen Mahlzeiten, Besuch von Pflegerinnen, Krankengymnastin und Nachbarn wanderte ich auf altbekannten Wegen durch Unterlüß. Vieles erschreckte mich: verlassene und leere Häuser, Gaststätten und Geschäfte, das autobahnähnliche Verkehrsaufkommen zu bestimmten Zeiten auf der Müdener und Neulüßer Straße, ein brutaler Überfall auf einen liebgewonnenen zugezogenen Nachbarn und Familienvater durch junge Unterlüßer. Was war aus meinem stillen Dorf der Kindheit geworden? Ich begann nach Erklärungen zu suchen. Während der häufigen Rügen-Unterlüß-Fahrten wurde die melancholische Stimme von Billie Eilish im Radio zu meiner Begleiterin. Was und wie sie sang, traf in dieser Zeit ins Schwarze: “ I tried to scream, but my head was under water… it could have been a nightmare… As long as I’m here, no one can hurt you… And it felt as if yesterday was a year ago. Would I do it again, would I do it again?“. Ich sang lauthals mit. Vier Stunden Fahrt gefüllt mit Erinnerungen an Vergangenes vergingen wie im Fluge, immer wieder. Die Chroniken Band 1 und Band 2 von Jürgen Gedicke entdeckte ich als wertvolle, detailreiche Informationsquelle, um die Anfänge von Unterlüß ab 1847 bis 1945 zu ergründen. Publikationen über Unterlüß nach dem Zweiten Weltkrieg fand ich kaum, meistens als Jubiläumsschriften zu Themen wie Artos oder Sportvereine. Hilfreich und spannend waren die Kapitel zum Rüstungsstandort Unterlüß in der tausendseitigen Rheinmetall-Chronik „Vom Reiz, im Rheinland ein großes Werk zu errichten“ von Dr. Christian Leitzbach. Um Unterlüß heute mit seinen Stärken und Schwächen verstehen zu können, brauchte ich den Blick in die Vergangenheit. Ich versuchte Nebel zu lüften und Informationen über die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg zu finden. Frischte eigene Erinnerungen durch Erzählungen anderer auf. Begann Gesammeltes schriftlich festzuhalten. Als mir bewusst wurde, dass Unterlüß im Vergleich zu anderen 1000jährigen Heidedörfern blutjung ist und im Jahr 2022 erst 175 Jahre alt wird, entstand die Idee einer Jubiläums-Festschrift, eines Dorf-Portraits. „Unter Leuten in Unterlüß“ wirft einen persönlichen Blick auf Unterlüß, ist eine Momentaufnahme, die Gegenwärtiges durch individuelle Geschichten und den Blick auf die Vergangenheit zu erhellen versucht. Objektivität und Vollständigkeit werden angestrebt, jedoch nicht erreicht. Ich bitte diejenigen um Verständnis und Verzeihung, mit denen ich nicht geredet und mich nicht ausgetauscht habe. Deren Leben für Unterlüß von Bedeutung sind und die trotzdem unerwähnt bleiben, wie auch wichtige Orte nicht vollständig berücksichtigt werden. In Teil 1 erinnert „Unter Leuten in Unterlüß“ an vier zentrale Bereiche industrieller Dorf-Entstehungsgeschichte. Skizziert im zweiten Teil Biographien, die verstehen lassen, was Unterlüß lebenswert macht, zum Glücksfall, Zufluchtsort oder zur Heimat. Führt im dritten Teil an Orte, die bedeutungsvoll sind, Geschichte und Zukunft in sich vereinen. Durch die Spurensuche der letzten zwei Jahre habe ich vor dem Hintergrund eigenen gelebten Lebens mein Heimatdorf wiedergefunden. Habe Wurzeln entdeckt, von denen ich nichts wusste, frühe Weggefährtinnen mit Freude wiedererkannt. Habe Geschichte durch Geschichten verstanden, gelernt durch das Fremde und Unbekannte an vertrauten Orten. Ich lernte neue Menschen kennen, die in ihrer großen Offenheit, Hilfsbereitschaft und Empathie zu lieben Bekannten wurden, manchmal sogar Freunden. Liebe Unterlüßer, liebe Unterlüßerinnen, ich danke euch von Herzen für jedes Gespräch, jeden Anruf, jede Email, jedes Lächeln, jede Ermutigung! „Unterlüß ist eine besondere Gemeinde.“ Dieser Satz fällt häufig. Ein Ort, in dem friedliche Stille und Vogelgesang immer wieder abrupt und sekundenkurz unterbrochen werden durch explosionsartige Knallgeräusche vom Schießplatz oder rhythmisch rauschenden ICE-Lärm. Ein Ort mit einer hohen Fluktuation von Menschen, die in bestimmten Epochen in großer Zahl in leerstehende Wohnungen und Häuser geschwappt werden, hier zeitweise Arbeit finden und oft auch wieder verschwinden. Ein industriell geprägter Ort mit überdurchschnittlich vielen Menschen in sozialer und wirtschaftlicher Not. Ein Ort auch für Menschen wie Albert König, die Einsamkeit und Anonymität suchen. Die immer wieder dankbar eintauchen in schützenden tiefen Wald. Aktuell leben 3370 Menschen in Unterlüß, 217 haben hier ihren Zweitwohnsitz. Mein Vater gehört nicht mehr dazu. Er hat seinen Platz in Unterlüß im Friedwald gefunden. Aber überall in Unterlüß ist er mir nah, begegnet mir in vielen Gesprächen. Das Altarstandbild der Friedenskirche bildet unsere Welt verblüffend klar in ihrer schmerzvollen Suche nach Frieden und Wahrheit ab. Unterlüß ist eine ehrliche Haut. Schnörkellos und ungeschminkt. In den vergangenen zwei Jahren wurde mir bewusst, dass ich es gerade dafür schätze und achte, dass es mir darum unter die Haut geht. Anja Heitmüller Postscriptum Das Problem der gendergerechten Sprache habe ich eher eigenwillig gelöst. Manchmal wähle ich die weibliche bzw. männliche Form in Hinblick auf die wahrscheinliche Mehrheit der genannten Personen. In anderen Fällen nutze ich neutrale Begriffe, abwechselnd männliche und weibliche Formen oder entscheide mich je nach Wort-und Satzklang. Linguistisch betrachtet ist das sicherlich unlogisch, bedenklich oder sogar inkorrekt. Für mich persönlich ist diese Lösung die momentan beste. Ich bitte um Verständnis.