Das Ende der Maurerkelle

Das Ende der Maurerkelle von Kreutzer,  Andreas
Wohnen ist ein Grundrecht. Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte schreibt es fest. Denn Wohnen ist ein elementares und existenzielles Grundbedürfnis, ein Menschenrecht. Ein schönes Zuhause ist Erholungsraum und Ort für Selbstentfaltung zugleich. Es bietet Vertrautheit, Sicherheit und Privatheit. Damit trägt es ganz wesentlich zu einem Gefühl der Geborgenheit bei. Nicht zuletzt manifestiert sich die Identität eines Menschen in der Wahl seiner eigenen vier Wände. Sie belegen seinen gesellschaftlichen Status und seinen ökonomischen Aufstieg, womit das für so viele Menschen wichtige Bedürfnis nach sozialer Anerkennung befriedigt wird. Die Haltung zum Wohnen kann daher zweifellos auch als Abbild einer Gesellschaft verstanden werden. Eine hohe Wohnqualität schafft den sozialen Rahmen für eine kulturell und intellektuell emanzipierte Gesellschaft. Schon der soziale Wohnbau im Wien der 1920er und 1930er-Jahre war vom Ideal einer aufgeklärten Selbstbestimmtheit geprägt. Wenngleich dann die meisten der errichteten Gebäude formal kenntlich, gleichermaßen architektonisch wie ideologisch mehr Programm waren, als Geist anregender „Wohlfühloasen“ im heutigen Sinn. So kritisierte etwa der Wiener Architekt Josef Frank (1885-1967) bereits nach der Grundsteinlegung für den heutigen Karl-Seitz-Hof die kulturelle und ästhetische Ambivalenz des Wiener Wohnbauprogramms. Dabei legte er die Widersprüche zwischen politischem Anspruch und gelebter Wirklichkeit schonungslos offen. Für Ihn fand die „proletarische“ Gesinnung keine Entsprechung in der „kleinbürgerlichen“ Form und der äußerlich vorgetragene Anspruch (Fassade) passte nicht zu den inneren Strukturen (Grundriss). Er hinterfragte die Verknüpfung von „Volkswohnungen“ und „Palast“, die er auf ein „kleinbürgerliches Geltungsstreben und aus der feudalen Vergangenheit übernommene Palastformen“ zurückführte. Für Frank war das ein Hindernis auf dem Weg zur idealen Wohnform: dem Einfamilienhaus. Daneben hat Wohnen natürlich auch eine wirtschaftliche Dimension. Wohnen ist die vermutlich wichtigste Stütze der österreichischen Volkswirtschaft. Nach Berechnungen von KREUTZER FISCHER & PARTNER steuert der Sektor etwa 21 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei und ernährt rund 776.000 Erwerbstätige und deren Familien. Die Wertschöpfungskette „Wohnen“ zieht sich wie ein roter Faden durch unser Leben. Sie beginnt bei der Mobilisierung von Bauland und der Errichtung der notwendigen Infrastruktur. Sie erstreckt sich weiter über Bauträger, Architekten und Planer bis hin zur Baustoffindustrie, den Baustoffhandel und dem ausführenden Sektor der Bauwirtschaft. Und sie endet bei den der Bauwirtschaft nachgelagerten Bereichen, zu denen wir beispielsweise die Immobilienwirtschaft zählen Energieversorger, Hersteller von Einrichtungsgegenständen und Haushaltselektronik sowie deren Vertriebskanäle, Versicherungen oder Handwerks- und Reparaturdienste. Kurzum, im ökonomischen Kontext ist Wohnen omnipräsent. Wohnen bedient deshalb nicht nur menschliche Grundbedürfnisse, Wohnen ist auch Ware und Dienstleistung. Selbst im Sozialismus wurde und wird nicht kostenfrei gewohnt. Es stellt sich daher nicht die Frage, ob man mit Wohnen ein Geschäft machen darf. Wohnungen sind zweifelsohne ein Wirtschaftsgut. Nichtsdestotrotz bleiben sie bis zu einem bestimmten Grad immer auch ein Sozialgut. Weshalb es legitim ist zur Diskussion zu stellen, wer, wo und wieviel von der Rechnung bezahlt. Oder anders gefragt: Sind in Anbetracht der existenziellen Notwendigkeit des Wohnens die Gesetze des freien Marktes in allen Wertschöpfungssegmenten uneingeschränkt anzuwenden? Sind nicht da und dort ordnungspolitische Pflöcke einzuschlagen, um das Gemeinwohl abzusichern oder um zu starke asymmetrische Verteilungen innerhalb der Wertschöpfungskette zu verhindern? Bekanntlich ist der Wohnungssektor für spekulative Verwerfungen besonders anfällig. Und das aus gutem Grund: Baugrundstücke sind ein endliches Gut. Im Gegensatz zu Waren oder Dienstleistungen ist Bauland – auf die Lage bezogen – unikal. In diesem Sinne ist es weder skalierbar, noch kann es vermehrt werden. Insofern ist auch jedes Wohngebäude, jede Wohnung ein Einzelstück, neben der Tatsache, dass Wohnraum in den allermeisten Fällen zudem das Ergebnis individuell geplanter Maßarbeit ist. Die Spielregeln des Wettbewerbs am Immobilienmarkt unterscheiden sich deshalb grundlegend von jenen der industriellen Produktion und der meisten Dienstleistungen. Überspitzt formuliert ist das Geschäft mit Wohnimmobilen dem Kunstmarkt näher, als allen anderen Märkten auf denen identisch reproduzierbare Waren oder Dienstleistungen gehandelt werden. Denn bei seriell hergestellten Produkten oder Dienstleistungen ist der Preis nicht zuletzt das Resultat von Wettbewerb und Skaleneffekten. Bei Unikaten ist die Konkurrenzrivalität naturgemäß vergleichsweise schwächer ausgeprägt. Die Herstellkosten werden auf Basis von Losgröße 1 berechnet. Im Prinzip greift das Höchstbieterprinzip. Und das kann mitunter zu Verzerrungen im Preisgefüge führen. Bei Kunstwerken mag das kein gröberes Problem sein. Bei Wohnraum hat es jedoch möglicherweise existenzielle Folgen, wenn etwa lokal verfügbarer Wohnraum für bestimmte Bevölkerungsgruppen einfach nicht mehr leistbar ist. Die gesellschaftspolitischen Auswirkungen solcher Segregationsprozesse werden oftmals unterschätzt. In den letzten dreißig Jahren haben sich diesbezüglich auch in Österreich die Zeichen für eine gesellschaftliche Spaltung verstärkt. Das lag jedoch nicht alleine an den steigenden Bodenpreisen. Auch die handwerklich geprägten, personalintensiven Segmente der Wertschöpfungskette „Wohnen“ haben kräftig an der Preisschraube gedreht. So wurde etwa von der Bauwirtschaft wenig unternommen um einen Preisauftrieb über der Inflationsrate zu unterbinden. Zwischen 1990 und 2020 wurden im großvolumigen Wohnbau Kostensteigerungen bei Lohn und Material Jahr für Jahr mehr oder weniger 1:1 an die Bauherren weitergegeben. Folglich wuchsen im Wohnungs- und Siedlungsbau die Baupreise jährlich um durchschnittlich 2,6 Prozent und damit um etwa ein Drittel rascher als die Inflation. Diese lag im Mittel bei zwei Prozent pro Jahr. Während sich die Lebenserhaltungskosten seit 1990 um 82 Prozent erhöhten, verteuerten sich die Errichtungen von Mehrfamilienhäusern um 113 Prozent. Für Häuslbauer kam es noch dicker. Hier lag der jährliche Preisauftrieb bei durchschnittlich 3,2 Prozent. In Summe ergab das in den letzten dreißig Jahren eine Verteuerung um 160 Prozent . Dass der Markt die Preissteigerungen ohne Murren akzeptierte, hatte einen guten Grund: Der Bedarf an neuem Wohnraum wuchs konstant. Die Nachfrage übertraf längstens seit 1995 konstant das Angebot, nicht zuletzt als Folge wachsender Migration und sinkender Haushaltsquoten. Die Wohnbaupolitik reagierte auf die sich verändernden Rahmenbedingungen zu schleppend, sodass sich wenige Jahre nach der Jahrtausendwende ein gewaltiger Überhang an Wohnungssuchenden ergab. Dieser schob sowohl die Mieten als auch die Häuserpreise am Sekundärmarkt an. Trotz in den letzten Jahren hoher Wohnbauproduktion ist dieser Überhang bis heute nicht abgebaut. Zum einen weil die Anzahl der Haushalte stabil wuchs. Zum anderen bediente die Immobilienwirtschaft zunehmend den Markt für Nebenwohnsitze und Wohnungen, die als reine Finanzanlagen angeschafft wurden. Wohnraum zum Zwecke einer dauerhaften Bewohnung wurde definitiv zu wenig gebaut. Zwischen 1990 und 2020 stieg die Anzahl der Hauptwohnsitze in Österreich um 34 Prozent, auf 3,99 Millionen. Die Anzahl der Nebenwohnsitze und Wohneinheiten ohne Wohnsitzangabe erhöhte sich im selben Zeitraum indessen um 114 Prozent auf rund 913 Tausend. Und zweifellos wurde der Trend zu „Betongold“ durch das in den letzten Jahren extrem niedrige Zinsniveau und die immer stärker aufkeimende Inflationsangst in breiten Teilen der Bevölkerung verstärkt . Was bei der Sache allerdings massiv verstört, ist der Umstand, dass selbst von den in den letzten dreißig Jahren mit Wohnbauförderung errichteten Miet- und Eigentumswohnungen zuletzt rund fünfzehn Prozent nicht dauerhaft bewohnt wurden. Die prosperierende Nachfrage hielt jedoch nicht nur die Preiselastizität bei Baudienstleistungen nieder. Zudem wurde von der Bauwirtschaft jeglicher Druck genommen, die Arbeitsprozesse zu optimieren und die Arbeitsproduktivität zu verbessern. Man lebte diesbezüglich wie in einer geschützten Werkstätte. Die Folgen dieser „Beharrungspolitik“ waren aus volkswirtschaftlicher Sicht fatal. Denn während sich zwischen 1995 und 2020 die Arbeitsproduktivität gesamtwirtschaftlich um mehr als ein Drittel verbesserte, entwickelte sich die Bauwirtschaft diesbezüglich bestenfalls seitwärts, laut Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung sogar um sage und schreibe 17 Prozent rückläufig. Anders ausbuchstabiert: Der Output pro geleisteter Arbeitsstunde lag im Jahr 2020 um 17 Prozent unter jenem 25 Jahre davor. Der Ordnung halber sei an dieser Stelle festgehalten, dass der von Statistik Austria dokumentierte Produktivitätsverlust von einigen Vertretern der Bauindustrie vehement bestritten wird. Und in der Tat ist im Wohnbau in den letzten Jahrzehnten etwa der Vorfertigungsgrad im Rohbau zweifellos gestiegen. Doch das reichte offenbar nicht um die Arbeitsproduktivität zu steigern, zumal gleichzeitig auch der Arbeitsaufwand wuchs. Zum einen wegen immer undurchsichtigerer, ordnungspolitischer, bau- und verfahrenstechnischer Reglements. Zum anderen auf Grund einer zunehmend komplexeren Bauproduktion. Die Rechnung für die weitgehende Tatenlosigkeit am Bau zahlten die Haushalte, die diese neu errichteten Wohnungen und Eigenheime bezogen. Die österreichische Wohnbaupolitik stand ihnen nicht zur Seite. Sie fungierte eher als Komplize der Wohnungswirtschaft, denn als Advokat der Wohnenden. Die öffentliche Hand negierte zu lange die Zeichen für die Notwendigkeit einer Dynamisierung der Wohnbauproduktion. Man unternimmt bis heute kaum etwas gegen den mancherorts massiven Preisauftrieb bei Grund und Boden. Ganz im Gegenteil: Erst durch die Widmungspolitk der Kommunen wird der Grundstein für Spekulationsgewinne gelegt. Dass der Mehrwert, der bei Umwidmung von Grünland in Bauland entsteht, steuerlich abgeschöpft werden könnte, kommt der Politik nicht in den Sinn. Vielmehr gefällt sie sich in der Rolle des Ausrichters von Architekturwettbewerben und als Retter des Weltklimas, der im Wohnungssektor seine Projektionsfläche findet.
Aktualisiert: 2023-04-06
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