Marx interkulturell

Marx interkulturell von Allen,  Amy, Boteva-Richter,  Bianca, Dunaj,  L'ubomír, Graneß,  Anke, Landa,  Ivan, Metz,  Thaddeus, Nakata Steffensen,  Kenn, Örnek,  Yusuf, Saal,  Britta, Shorny,  Michael
Bianca Boteva-Richter und Ľubomír Dunaj (Herausgeber:innen) Marx interkulturell Einleitung Gerade jetzt über historische oder zeitgenössische Rezeptionen bzw. Weiterführungen der marxschen Theorie in verschiedenen Teilen der Welt zu forschen, mag vielleicht etwas erstaunen oder gar als unpassend empfunden werden. Denn trotz vieler Versuche, nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008–2009 in mehreren westlichen Ländern, den Marxismus wieder lebendig zu machen, kann heutzutage (oft aus guten Gründen) eher ein Abflauen des allgemeinen Interesses an »revolutionären Problemlösungen« festgestellt werden. Es kann zugleich kaum die Rede davon sein, dass die marxistischen Gedanken in den letzten Jahrzehnten in der nicht-westlichen Welt große Konjuktur erlebt hätten, eher im Gegenteil; der globale Kapitalismus in seiner neoliberalen Ausformung erobert weite Teile der Welt. Es ist ebenso nicht leicht abzuschätzen, ob in den Staaten, die sich offiziell immer noch auf die marxschen Lehre beziehen, wie etwa China, Vietnam oder Kuba, die Beziehung zwischen den regierenden Parteien und den marxschen Gedanken noch authentisch genannt werden kann. Dennoch sind die geschichtlichen Wege des Marxismus, sowie die Relevanz bestimmter marxscher Ideen immer noch von ungebrochener Aktualität und Intensität. Hinzu kommt eine spannende, aber zugleich oft grausame Faktizität, die mit bestimmten Ländern und Gesellschaften verbunden ist: Befinden sich doch derzeit zwei der Nachfolgerstaaten der ehemaligen Sowjetunion – Russland und Ukraine – im Krieg. Das sind gerade eben jene Staaten, die früher als Ideenanwender des Marxismus-Leninismus und somit als ein gescheiterter Versuch gelten, ein humanistisches Projekt zu realisieren. Es könnte zwar hier eingewandt werden, dass der heutige Krieg nichts damit zu tun hätte bzw. dass die Probleme bereits ganz zu Anfang an der »Ehe« zwischen dem Marxismus und den älteren russischen imperialen Tradi­tionen, festgemacht werden könnten. [Fußnote 1: Die Komplexität der heutigen Geoproblematik kann und soll in dieser Einleitung nicht zur Gänze erörtert werden. Die Hinweise dienen vielmehr als Reflexionsanregungen. Mehr zur komplexen Beziehung zwischen dem Marxismus und den russichen kulturellen, politischen und philosophischen Traditionen siehe u.a. Arnason, Johann P.: The Future That Failed. Origins and Destinies of the Soviet Model. New York: Routledge 1993.] Oder aber auch, dass die Periode der Perestrojka, die als ein »chaotischer und naiver Versuch« die Sowjetunion zu reformieren, als Initiation dessen vermutet werden sollte. Wer weiß. So oder so, mit dem enormen Einfluss auf die Weltgeschichte, den der Marxismus in fast zwei Jahrhunderten ausgeübt hat, ist es unausweichlich geworden, diese Philosophierichtung, ihre Vertreter:innen, sowie ihre unterschiedlichen methodischen Ableger, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Aus diesen Gründen wird hier ein bescheidener Exkurs in vier Weltregionen unternommen, der einen kurzen Umriss und eine Skizze, aber keine allumfassende Diagnose des Phänomens Marxismus anbieten will. Dies zu tun ist jenseits der o. g. Gründen aber auch deshalb wichtig, weil ein humanistisches Projekt eben ein humanistisches Projekt ist, trotz gescheiterter Versuche, es in die Realität umzusetzen. Oder gerade deswegen. Unser Bemühen, marxsches Denken, seine Rezeption sowie Weiterentwicklung in einigen Teilen der Welt abzubilden, soll zeigen, dass es sich lohnt, immer noch und immer wieder die Ideen von sozialer Gleichheit, gerechten Produktionsbedingungen, ja vom Menschen an sich in unterschiedlichen Denkmodi und unter Bezugnahme außereuro­päischer Modelle nachzuzeichnen. Unsere Polylog-Ausgabe beginnt mit einem Beitrag, der marxsches Denken in Richtung race und Klasse weiterführt und somit der von eini­gen dekolonialen Theoretiker:innen kritisierten Indifferenz der marxschen Theorie zu widersprechen versucht. Amy Allen untersucht einen Text des afro-amerikanischen Theoretikers DuBois, der durch »die Umdeutung der Sklavenbefreiung in eine (vorübergehend) erfolgreiche Arbeiterrevolution die Marx’sche Geschichtsphilosophie ins Wanken [bringt], insbesondere die Auffassung, dass der historische Wandel durch die ambivalente, krisenhafte und widersprüchliche, aber dennoch fortschrittliche Entwicklung und Expansion der Produktionskräfte angetrieben wird«. Durch diese Umdeutung und durch die Analyse der Verbindung zwischen Fortschritt, Arbeiteraufstand und Aufstand der Sklav:innen wird die Behauptung von Marx, dass nur der industrielle Fortschritt und und die damit einhergehende schlechte und ausbeuterische Arbeitsbedingungen einen Arbeiter:innenaufstand initiieren und einen Systemwechsel herbeirufen können, widerlegt. Denn Fortschritt ist nicht gleich Fortschritt, und der Aufschrei gegen die Ausbeutung ist nicht a-kulturell, da hat sich nicht nur der junge Marx geirrt. Später, als »Marx ein entschiedener und lautstarker Befürworter der Sklaven­emanzipation« wird, untersucht die Autorin, ob das marx­sche Denken ein »kritische[s] Bewusstsein für die Unmenschlichkeit, Brutalität und Ungerechtigkeit der Sklaverei und deren zentrale Rolle bei der Entstehung des Kapitalismus letztlich mit Marx’ zutiefst ambivalenter und doch entschieden am Fortschritt orientierten Lesart der Geschichte« schaffen kann. Darüber hinaus zeigt die Autorin auf, dass »DuBois’ Black Reconstruction als ein innovatives Beispiel der marxistischen Tradition [gedeutet werden kann, da] DuBois’ Werk diese Tradition radikal von innen heraus [transformiert], indem die Sklaverei in den Mittelpunkt der Entstehungsgeschichte des Kapitalismus gestellt wird. Auf diese Weise bietet er uns ein hilfreiches Modell, um die Kapitalismuskritik von der Marx’schen Geschichtstheorie mit ihrem noch fortbestehenden Eurozentrismus und Fortschrittsdenken abzulösen«. Neue Lesearten marxschen Denkens bietet auch der historisch reflektierte Beitrag von Ivan Landa; er bietet etwas, was uns bekannt erscheint, und doch so ferne liegt: eine mitteleuropäische Introspektion in die äußerst kreative Entwicklung marxschen Denkens, die die Verschränkung von Marxismus und Christentum im tschechischen Denken aufzeigt und gar neue denkerische Kraft im negativen Platonismus, im emanzipatorischen Platonismus, im nichtreligiösen/sekulären Christentum und vielen anderen Richtungen entfaltete. Die dabei entstandenen »Debatten, z. B. über Imagination, menschliche Kreativität, Revolution, Kultur, Moral oder den Sinn des Lebens« wurden durch die Verschränkung von Theismus und Atheismus stark beeinflusst. Denn »Marx verstand [zwar] Religion primär als kritische Reaktion der Menschen auf die herrschenden sozialen Verhältnisse und zugleich als Ausdruck des Bedürfnisses, eine bessere soziale Ordnung zu errichten« doch gerade seine Feststellung »Religion sei Opium des Volkes« trieb Reflexionen und Debatten voran, die ihresgleichen suchen: die Verortung der Religion in einer sozialistischen Gesellschaft, das herbeigesehnte »natürliche« Absterben der ersten, sowie der scheinbar »selbstverständliche« Triumph der letzteren wurden von der sozialen Entwicklung mehrmals überholt und infrage gestellt. Das trieb die Denker:innen voran und zwang sie zu philosophischen Erklärungen der Wirklichkeit, wobei »[d]ie Hauptfrage […] jedoch dieselbe [blieb]: Wie ist es nach der sozialen Revolution überhaupt möglich, dass die Religion dem Absterben derart trotzen kann? Eine damals weitverbreitete Antwort lässt darauf schließen, dass die Tendenz, den sozialen Verhältnissen hinterherzuhinken, für das soziale Bewusstsein charakteristisch ist. Religion überlebt, weil die Strukturen des religiösen Bewusstseins der sozialen Veränderung widerstehen.« Um jedoch auf die Feststellung zu Anfang der Einleitung zurückzukommen, dass das Marxistische oder marxsche Denken nicht nur unterschiedliche Realitäten, gescheiterte faktische Versuche und Neuanfänge überlebt hat, kann festgestellt werden, dass die Rezeption und die Weiterentwicklung in vielen Teilen der Welt Gemeinsamkeiten aufweisen, aber auch kulturell unterschiedlich sind; sie werden zudem durch die kulturellen Aspekte und Praktiken des jeweils Anderen bereichert und erneuert. Der Artikel über die marxsche philosophische Anthropologie des japanischen Denkers Miki Kiyoshi kann in dieser Hinsicht exem­plarisch angeführt werden. Dabei geht es nicht nur darum einen neuen Typus von Menschen als Arbeiterakteur:in vorzustellen, denn »Mikis ›marxsche Anthropologie‹ stützte sich auf den frühen Marx, um die Entstehung des subjektiven Bewusstseins und die Transformationsprozesse der Ideologie im Dialog mit der Kyoto-Schule und der nichtmarxistischen, vor allem deutschen Philosophie zu erklären.« Der Versuch war und ist nicht unumstritten, forderte er doch das damalig dialektisch vereinfachte Denken durch eine tiefe sensible Analyse des menschlichen Daseins aus marx­scher Perspektive heraus. Erstaunlich, und auch beängstigend ist, dass das schwarz-weiß plakative Denken von damals genauso wie heute in einfachen Parabeln reflektiert wird. Dies führt dazu, dass die Tableaus kippen und linke Protagonisten mühelos ins Rechte Eck wechseln. Die Situation, die der Autor Kenn Nakata Steffensen bildlich beschreibt, könnte direkt auf die heutige Situation in Russland bzw. der dortigen Politik umgelegt werden. Dieser Artikel ist insofern interessant, als es im deutschsprachigen Raum noch keinen derart ausführlichen und reflektierten Artikel über den japanischen Denker Miki gibt. Der letzte Beitrag in der Marx-Nummer unserer Zeitschrift Polylog vergleicht Marx’ normative Vorstellungen vom menschlichen Wesen, insbesondere aus dessen frühen Schriften, mit typischen Merkmalen einer afrikanischen Ethik, wie sie von afrikanischen Philosoph:innen der Gegenwart konzipiert wird. Bemerkenswert dabei ist, dass auch aus afrikanischer denkerischer Sicht von einem extendierten relationalen Subjekt ausgegangen wird, in dem das Ich mit dem Wir verwoben ist. Dies ähnelt (und das sagt auch der Autor selbst) nicht nur einer aristotelischen sondern auch konfuzianistischen Tradition, die ihrerseits auch im Artikel über den japanischen Marxismus eine Rolle spielt. Im subsaharischen Afrika wird diese These als ein Konzept der Selbstverwirklichung oder als Möglichkeit, eine vollständige Person zu werden, behandelt. Afrikanische Werte gehen vom erweiterten Verständnis des Selbst aus und definieren in weiterer Folge, was »Freundschaft«, »Harmonie«, »Zusammenhalt« und »Kommunalität« bedeuten. Die Gemeinschaft, ein wichtiges Konstrukt marxschen Denkens, bekommt somit eine neue Nuance, über die es sich zu reflektieren lohnt. Denn »von jedem Mitglied wird erwartet, dass es sich als integraler Bestandteil des Ganzen betrachtet und eine angemessene Rolle spielt, um das Wohl aller zu erreichen.« Zum Schluss sei nur erwähnt, dass wir uns wohl bewusst sind, nur einen kurzen Umriss marxschen Denkens, der Rezeption oder Weiterführung in unterschiedlichen Teilen der Welt aufgezeigt zu haben. Es gibt zahlreiche Werke [Fußnote 2: Z. B. Fornet-Betancourt, Rául: Ein anderer Marxis­mus? Die philosophische Rezeption des Marxismus in Lateinamerika. Mainz: Grünewald Verlag 1994 und viele andere., die exemplarisch aufzeigen wie komplex, tiefgreifend und kontinuierlich beispielsweise die Rezeption marxschen Denkens in den verschiedenen Ländern Lateinamerikas ist. Aber das ist eine andere Geschichte, die aufgrund der ungeheuren Fülle, gesondert erzählt werden muss. Viel Freude beim Lesen!
Aktualisiert: 2022-09-01
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