Einleitung
1.1. Problemstellung
Tafeln gibt es in Deutschland seit mehr als 15 Jahren. Seit der Gründung der ersten Tafel Deutschlands in Berlin im Jahre 1993 hat sich ein flächendeckendes Netz mit lokalen Tafeln entwickelt. Nach Auskunft des Bundesverbandes Deutscher Tafeln e.V. engagieren sich derzeit knapp 800 Tafeln in allen Teilen Deutschlands für die Lebensmittelversorgung von Menschen in Not.
Tafeln sind eine Einrichtung unserer Zeit: Überschüsse an Lebensmitteln auf der einen Seite, deren Entsorgung sogar zusätzliche Kosten verursacht; Mangel an Lebensmitteln auf der anderen Seite, mit all ihren Konsequenzen für die Gesellschaft als Ganzes und für den einzelnen Betroffenen.
Was liegt also näher als eine Brücke zu schaffen zwischen dem Überfluss einerseits und dem Mangel andererseits. Dieser Aufgabe haben sich die Tafeln verschrieben. Ihr Hauptanliegen ist es, Lebensmittel, die anderenorts, vor allem im Handel nicht mehr verwendet werden, zu sammeln und an bedürftige Menschen abzugeben. Die Arbeit der Tafeln zielt somit im weitesten Sinne darauf, einen Ausgleich zwischen der in Deutschland wachsenden Armut und dem gleichzeitigen Überangebot an Nahrungsmitteln aus dem Einzelhandel und der Industrie zu schaffen. Zu diesem Zweck betreiben sie Ausgabestellen, Tafelküchen, mancherorts auch Liefertafeln. An den Ausgabestellen können Bedürftige in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen Warenkörbe mit Lebensmitteln, inzwischen zumeist gegen ein geringes Entgelt, in Empfang nehmen. Tafelküchen versorgen Bedürftige täglich mit einer ebenfalls im Wesentlichen aus Lebensmittelspenden bestehenden gekochten Mahlzeit. Und als Liefertafeln engagieren sich die Tafeln selbst für andere soziale Projekte, indem sie diese aus den gesammelten bzw. gespendeten Lebensmitteln beliefern.
Dabei arbeiten die Tafeln so, dass grundsätzlich alle Menschen, die der Hilfe bedürfen, auch Nutzer der Tafeln werden können. Sie sorgen dafür, dass entsprechend ihrer Grundsätze nur solche Lebensmittel bereitgestellt werden, die nach den gesetzlichen Bestimmungen noch verwertbar sind. Bei all dem sind die Tafeln lokal tätig, verzichten auf gegenseitige Konkurrenz und respektieren stattdessen den Gebietsschutz.
Je größer das Problem der Armut wird, umso bedeutsamer wird das Engagement der Tafeln und umso deutlicher tritt auch das Engagement der Tafeln in das öffentliche Bewusstsein. Die Tafeln haben längst ihr Nischendasein verlassen, den meisten Menschen ist inzwischen bekannt, dass es auch in ihrer
Stadt oder Region derartige Einrichtungen gibt, unabhängig davon, ob sie sich persönlich mit der Tafelarbeit in Kontakt befinden oder nicht, ob sie sich als Sponsor oder Spender engagieren oder gar selbst als Bedürftige Nutznießer der Tafelarbeit sind. Nicht selten unterstützen auch die Kommunen direkt und indirekt das Engagement der Tafeln, indem sie Räume zur Verfügung stellen, bei der Beschaffung von Technik zur Seite stehen oder sich selbst unmittelbar als Träger beteiligen. Auch über die Art und Weise der Arbeit der Tafeln ist inzwischen hinreichend informiert worden. Medien unterschiedlichster Bereiche berichten heute über die Tätigkeit der Tafeln und nicht zuletzt sind sie auch Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.
1.2. Zielstellung
Die vorliegende Untersuchung widmet sich der Tafelarbeit aus der Perspektive der unmittelbar Beteiligten. Nicht die gesellschaftliche Bedeutung der Tafeln als Einrichtung, in der durch vorwiegend privatwirtschaftliche Hilfe soziale Unterstützung jenseits staatlicher Verantwortung organisiert wird, ist Gegenstand der Untersuchung. Ebenso wenig wird die innere Organisation der Tafeln einer detaillierten Betrachtung unterzogen, und auch die Funktionsweise des Gebens und Nehmens steht nicht im Mittelpunkt dieser Arbeit. Stattdessen kommen in der Arbeit die Akteure zu Wort: Jene, die Hilfe benötigen und bei der Tafel nachsuchen, ebenso wie jene, die diese Hilfe ehrenamtlich oder in anderen Beschäftigungsverhältnissen leisten. Auf diese Weise sollen Konturen eines Bildes entstehen, das die Tafelarbeit von ‚Innen’ sichtbar macht. Dazu werden aus dem Munde der Beteiligten die Beweggründe dargelegt, die die einzelne Person auf dieser oder jener Seite des Ausgabetisches oder der Küchentheke veranlasst hat, Unterstützung zu suchen oder solche zu gewähren. Zugleich werden dabei auch die Gefühle deutlich, die die handelnden Akteure in diesem Zusammenhang empfinden. Es lassen sich die Schwierigkeiten erkennen, welche zu überwinden sind, sei es nun, beim erstmaligen oder regelmäßigen Gang zur Lebensmittelausgabe für Bedürftige, oder sei es bei der Organisation eines hinreichenden und qualitativ ansprechenden Lebensmittelangebotes. Und bei all dem wird zumindest ansatzweise aufgezeigt, welche Unterstützung die Tafel dem Einzelnen tatsächlich zu leisten vermag und welche Wünsche und Ansprüche unerfüllt bleiben müssen.
Als Individuen finden arme Menschen sowohl in Hinblick auf ihre Gedanken, Intentionen, Motive und Gefühle als auch bezüglich ihrer situationsbezogenen Wahrnehmung nach wie vor wenig Beachtung. Der einzelne arme Mensch ist als Konsument kaum von Interesse. Armut spielt sich in einer materiell reichen Gesellschaft eher im Verborgenen ab. Die Armut des Individuums und die daraus resultierende Inanspruchnahme von Hilfe ist ein Thema, das im Wesentlich im Kreise der unmittelbar Betroffenen und der ihnen Hilfe leistenden Menschen verbleibt. Es wird selten in der Öffentlichkeit diskutiert und ist kaum Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen. Angesichts des Wachstums der Zahl armer Menschen in Deutschland erscheint es aber umso wichtiger, sich diesem Gegenstand zu nähern.
1.3. Methodik der Untersuchung
Für die in den Kapiteln 2 bis 5 beschriebenen Sachverhalten dienten halbstrukturierte mündliche Interviews auf der Basis von Interviewleitfäden als Erhebungsmethode[1]. Die in den Interviewleitfäden formulierten Fragen wurden im Wesentlich als Impulsgeber verwendet, um auf diesem Wege die Gesprächspartner zu veranlassen, ihre Erlebnisse, Einschätzungen, Gedanken und Gefühle mitzuteilen. Insgesamt wurden mit 20 Mitarbeitern und 21 Tafelnutzern Interviews in fünf unterschiedlichen Einrichtungen der Tafel in Sachsen-Anhalt durchgeführt.
Die Auswahl der Interviewpartner erfolgte willkürlich und spontan auf der Grundlage der Freiwilligkeit. Jene Personen, die zu einem Interview bereit waren, wurden dann in einem separaten Raum bzw. an einem gesonderten Ort befragt. Die Gespräche wurden nach Absprache mit den jeweiligen Interviewpartnern auf einem Tonbandgerät aufgezeichnet.
Nach der Aufzeichnung wurden die Interviews zunächst eins zu eins tran-skribiert. Aus Gründen der Anonymität wurden die Namen der Interviewpartner durch Buchstaben bzw. Ziffern ersetzt. Die eigentliche Auswertung der Interviewtexte erfolgte nach den Prinzipien der qualitativen Inhaltsanalyse. Dabei wurden die vorhandenen Informationen der Interviews schrittweise durch Paraphrasierung reduziert und schließlich durch Interpretation so generalisiert, dass die für die Untersuchungsziele relevanten Inhalte in gedrängter und zugleich transparenter Form sichtbar wurden.
Die Untersuchung der Art und Qualität des Nahrungsmittelangebots erfolgte ebenfalls in den bereits erwähnten fünf unterschiedlichen Tafeleinrichtungen. Die Lebensmittel wurden tabellarisch mit Bezeichnung, Menge und Nährwerten, sofern diese auf der Verpackung vermerkt waren, erfasst. Lose Lebensmittel wie Obst, Gemüse oder Backwaren und Nahrungsmittel ohne Nährwertkennzeichnung wurden ebenfalls schriftlich festgehalten, die fehlenden Nährwerte wurden später mit einem Nährwertberechnungsprogramm berechnet und ergänzt. Folgende Nährwerte wurden erfasst bzw. berechnet: Energiegehalt (kcal), Eiweiße (Ew), Fette (F), Kohlenhydrate (Kh), Ballaststoffe (Bst), Eisen (Fe), Calcium (Ca), Vitamin C (Vit. C) und Folsäure (Fols.)[2]. Zubereitete Speisen wurden in einer weiteren Tabelle mit Bezeichnung, Zutaten und Portionsgröße schriftlich festgehalten.
Zur Beurteilung der Qualität von Nahrungsmitteln und Speisen, wie Obst, Gemüse, Brot und zum Mittag gekochte Speisen, wurden vor Ort sensorische Untersuchungen von jeweils zwei Prüfern vorgenommen[3]. Die Prüfung bezog sich auf die Einzelmerkmale Farbe/Aussehen, Form und Geruch. In jeder Tafeleinrichtung wurden mindestens sechs Lebensmittel bzw. drei Mittagsgerichte untersucht. Als Prüfmethode diente die bewertende Prüfung mit Skale nach DLG-Schema. Es handelt sich dabei um ein Verfahren zur sensorischen Bewertung von zuvor festgelegten Merkmalen, wobei Notenskalen für jedes Einzelmerkmal genutzt werden, um dieses in seiner Ausprägung darzustellen. Die Zahlenwerte der Notenskalen sind Ordinaldaten, sie steigen mit zunehmender Qualität an[4]. Zusätzlich wurden die Einzelmerkmale in Hinblick auf ihre Bedeutung für die Gesamtqualität des Produktes mittels entsprechender Faktoren gewichtet[5]. Zur Darstellung der sensorischen Qualität wurden Qualitätszahlen gebildet. Diese wurden von jedem einzelnen Prüfer für das jeweilige Prüfobjekt ermittelt, und zwar durch die Summierung der Produkte aus der jeweiligen Bewertungsnote des Einzelmerkmals und der Gewichtung des jeweiligen Einzelmerkmals, geteilt durch die Summe der Gewichte. Dabei verkörpert die letztlich für das Prüfobjekt gültige Qualitätszahl das arithmetische Mittel der durch die jeweils beteiligten Prüfer festgelegten Qualitätszahlen.
Die Erfassung der Nährstoffversorgung durch Tafelprodukte erfolgte mittels Ernährungsprotokollen, welche an jene Tafelkunden ausgegeben wurden, die zuvor ihre freiwillige Bereitschaft zur Teilnahme erklärt hatten[6]. Die Protokollierung lief über alle sieben Tage einer Woche (Montag bis Sonntag). An jedem Tag sollten zum ersten Frühstück, zum zweiten Frühstück (Zwischenmahlzeit), zum Mittagessen, zum Imbiss (Zwischenmahlzeit) und zum Abendbrot die Menge und die Art der verzehrten Lebensmittel aufgeschrieben werden, wobei jene Lebensmittel, die über die Tafel bezogen worden waren, gekennzeichnet werden mussten. Um schließlich die berechnete Nährstoffzufuhr mit den nach Geschlecht und Altersgruppen gestaffelten Referenzwerten der DGE vergleichen zu können, erfolgten Angaben über Geschlecht und Alter der Teilnehmer[7].
1 Vgl. Anlagen 1 und 2
2 Vgl. Anlage 3
3 Vgl. Anlage 4
4 5 Punkte: sehr gut/Erwartungen an die Qualität wurden vollumfänglich erfüllt; 4 Punkte: gut/geringfügige Abweichungen; 3 Punkte: zufriedenstellend/merkliche Abweichungen; 2 Punkte: weniger zufriedenstellend/deutliche Fehler; 1 Punkt: nicht zufriedenstellend/starke Fehler; 0 Punkte: ungenügend/nicht bewertbar.
5 Merkmal Geruch: Faktor 5; Merkmal Farbe/Aussehen: Faktor 3; Merkmal Form: Faktor 2
6 Vgl. Anlage 6
7 Vgl. zu den Referenzwerten: Deutsche Gesellschaft für Ernährung (Hrsg.): Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr, 1. Aufl., Frankfurt a. M., 2000.
Zur Verteilung der Referenzwerte für die Energie- und Nährstoffzufuhr auf die Mahlzeiten vgl. Anlage 5