Kultur ist ein Bereich des Ungefähren und Unbestimmten, für den Phänomene der Übersetzung und Überschreitung konstitutiv sind: Kulturelle Muster wandern, kreuzen Grenzen und werden in neue Systeme integriert, ohne sich jemals völlig assimilieren zu lassen. Aber bereits für sich genommen ist keine Kultur mit sich selbst identisch, sondern bestenfalls selbst-ähnlich. Kulturen lassen sich immer nur 'ungefähr' voneinander abgrenzen und sind darauf angewiesen, dass es ihre Mitglieder mit den unvermeidlich auftretenden Störungen und Missverständnissen nicht 'zu genau' nehmen. Die vorliegenden kultursoziologischen Studien sind einer kulturellen Logik des Ungefähren auf der Spur, die sich meist hinter der gesellschaftlichen Maskerade des Eindeutigen und Selbstverständlichen verbirgt. 'Natürlich' ist Folter unmoralisch und 'böse', sind Amok und Hooliganismus 'sinnlos'; allerdings verwischen sich bei genauerer Betrachtung die Grenzen zwischen Moral und Unmoral, Sinn und Nichtsinn, Gewalt und Nichtgewalt, Folter und Verhör und müssen unablässig neu gezogen und verwischt werden. Das geschwätzige Wuchern der Diskurse und die unablässliche Vervielfältigung der Bilder fördern eine gesellschaftliche Unübersichtlichkeit, in welcher die Unterscheidung zwischen Gerücht und Wissen, Original und Kopie, Gegnerschaft und Nachahmung zu kollabieren droht. Im Spannungsfeld von Logos und Mythos, von kultureller Repräsentation und ihrer Destruktion, von individueller Abgeklärtheit über öffentliche Moral und Religiosität hin zu gesellschaftlicher Säkularisierung, soll hier nicht nur eine Logik der Kultur aufgezeigt, sondern auch ein neuer Blick auf Probleme der Gegenwartsgesellschaft gewonnen werden.
Aktualisiert: 2020-01-14
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Im Begriff der Ambivalenz droht gegenwärtig das Konturlose und Triviale mit dem Erhabenen und Fundamentalen zu kollabieren. Zwischen seiner Trivialisierung einerseits und seiner Mystifikation andererseits wird hier ein Durchgang gesucht, um den Begriff gegenstandsnah und anschaulich im Blick auf soziale, zuweilen auch durchaus dauerhafte, aber sich selbst nicht durchsichtige Zwischenlagen zu pointieren. Die in Aktion versetzte und zur Artikulation getriebene Ambivalenz aber wird als Kippfigur sichtbar. Die hier versammelten kultursoziologischen Beiträge verstehen sich als Explorationen in diesem bislang kaum vermessenen, ja kaum erahnten Terrain. Sie suchen den Schwebezustand der Ambivalenz einerseits und die Flüchtigkeit ihres Sichtbarwerdens im Moment des Kippens andererseits zu erhaschen.
Die bereits gegenstandsimmanente Relevanz des diesen Studien als Begriffssonde dienenden Schlüsselworts 'Ambivalenz' wird demonstriert an Fragen der kollektiven Identifikation mit Europa; zum Selbstverständnis türkisch-deutscher Jugendlicher; zum Status des Gerüchts und der Lüge; zu den kommunikativen Tücken der Psychotherapie; zum Faszinosum des Spiels und so-tun-als-ob; zugleich wird sie auch auf primär theoretischer Ebene exploriert. Die zeitliche Manifestation kippeliger Ambivalenzen wird in Beiträgen zur Risikowahrnehmung nach Fukushima, zur Dynamik von Klangbildern, zur Überlagerung von Graffitis, am Beispiel des Falls von Strauss-Kahn, des Falls des Antichrist, der Guillotine und der Finanzakrobaten sowie im Blick auf die Selbstpositionierung Maltas vorgeführt.
Institutioneller Ausgangspunkt der vorliegenden Studien ist die Konstanzer Kultursoziologie; die zentrale und hier kritisch gewürdigte Referenz sind die unter dem Stichwort Zwischenlagen gesammelten jüngsten Arbeiten von Bernd Giesen. Ihm ist dieser Band gewidmet.
'Ambivalenz' hat sich in den letzten Jahrzehnten vor dem Hintergrund ihrer lokalen und funktionalen diskursiven Abschattungen zu einem Schlüsselwort der modernen Kultur entwickelt. Gerade als Toleranz erheischender Platzhalter für alle nicht eindeutig oder wenigstens nicht ad hoc begreifbar zu machenden oder aber auch mit gutem Grund latent gehaltenen menschlichen Belange und institutionellen Konflikte kommt diesem Wort heute eine in ihren Konsequenzen konfliktdämpfende Scharnierfunktion zu. Wo immer dieser semantische Joker ins Spiel gebracht und insinuiert wird, dass die eventuell zu kippen drohende Situation tatsächlich doch komplexer, vielschichtiger und vertrackter sein könnte, als man bis dahin zu sagen vermochte, verführt dies zu genauerem, aber vielleicht auch nur prätendiertem Hinsehen. Wo man ansonsten Gefahr liefe, der Blindheit und Insensibilität bezichtigt zu werden, wird man sich eher geneigt sehen, eine verhärtete Position im Verweis auf die Ambivalenz der Situation und damit unter Wahrung des Gesichts zu räumen.
Aus einer Vielzahl unzusammenhängender Verlegenheitsreaktionen hat sich heute ein selbsttragendes, sozialstrukturell aber vermutlich nicht ortloses Diskursuniversum entsponnen. Die dauerreflexive Stabilisierung der mit dem Wort 'Ambivalenz' benannten, aber eben auch gebannten Spannung und der damit zunächst vielleicht nur als Provisorium akzeptierten Interimslösung ist kein Verfallssyndrom, sondern selbst eine status quo stabilisierende kulturelle Leistung und Neutralisierungstechnik. Ambivalenz suspendiert vom Engagement und entschuldigt die eigene Indifferenz im Verweis auf die vermeintlich eben ambivalente Sachlage. Gerade durch das Ambivalentwerden alter Distinktionen, Konfliktlinien, Spannungslagen und Ansprüche wird, soweit sich die Probleme hinreichend auf Distanz halten lassen, kulturelle Integration unter modernen Lebensbedingungen vielleicht erst möglich.
Mit der hier skizzierten – die rhetorisch-pragmatische Dimension im Sinne einer heute ubiquitär gebrauchten Etikettierungsstrategie heraushebenden – Akzentsetzung ist unser Schlüsselwort natürlich ursprünglich nicht ins Rennen geschickt worden. Einige wichtige Stationen aus den letzten gut hundert Jahren der Geschichte des Begriffs der Ambivalenz seien hier benannt, um das ursprünglich mit dem Terminus verbundene Befremden wieder wachzurufen, seinen anfänglichen Witz wieder sichtbar und dann im Weiteren vielleicht erneut heuristisch nutzbar zu machen. Um die Wende zum 20. Jahrhundert waren es zum einen wahrnehmungstheoretisch faszinierende Experimente zum zeitlichen Wechsel von Figur und Grund beim Betrachten bestimmter Bilder oder Zeichnungen, zu denen sich auch schnell Parallelen im Bereich der akustischen und musikalischen Wahrnehmung fanden. Der Witz der Sache war dabei, dass der Bildträger, die Geräuschkulisse oder das Tonmaterial sich selbst nicht änderten, dem Beobachter die vermeintliche Sache aber gleichwohl als Kippfigur begegnet. Sie zu beobachten, setzt hier eine Art Spurenbildung in der Zeit und damit eine elementare Form von Gedächtnis voraus. Ohne ein wenig Geduld und Konzentration steht die Kippfigur still, vermag nicht durch ihre Ambivalenz zu faszinieren, bleibt unbemerkt und verdient ihren Namen eben noch gar nicht. Die hier benannte Verschränkung von zeitlicher Sukzession einerseits und auf ein vermeintlich bestimmtes Etwas konzentrierter Wahrnehmung andererseits geriet beim Aufgreifen oder der vielleicht auch unabhängig erfolgten Neuinstallierung des Begriffs der Ambivalenz in anderen Forschungszusammenhängen aus dem Blick. Zu nennen sind hier zunächst vor allem die frühe Psychoanalyse mit ihrem Blick auf ambivalente, von gegenläufigen Regungen getragene Gefühle; wenig später aber auch die modernistische Ästhetik mit dem Versuch, den ästhetischen Gegenstand über die unentschieden bleibende Vielzahl seiner Interpretationen zu
begreifen; und schließlich, nun schon in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, die Professionensoziologie mit ihrem Fokus auf den professionell zu bewältigenden Spagat der distanzierten Anteilnahme. In allen drei Forschungsfeldern wurde der Terminus um die im wahrnehmungstheoretisch motivierten Selbstversuch leicht erfahrbare Kuriosität des Oszillierens beschnitten. Er wurde gewissermaßen ontologisch tiefergelegt und auf einen Strukturbegriff reduziert. In diesem Zuschnitt konnte Ambivalenz dann zunächst von der Kulturanthropologie und schließlich der soziologischen Zeitanalyse zu einer ubiquitären Nebenfolge jeder Art von kategorialer Welterfassung promoviert werden.
Ambivalenz ist die heute vielleicht prominenteste Chiffre des vergeblich gesuchten Grundes einer sich des legitimationsentziehenden Vorwurfs der Säkularisierung nicht entwinden könnenden Moderne. Erst vor diesem Hintergrund dürfte sich die Resonanz der jüngeren und jüngsten Versuche zu einer Respezifikation der Formel erklären lassen. Sie kaprizieren sich allesamt auf bestimmte, mehr oder weniger klar artikulierte Antinomien. Zu nennen sind hier das zwischen Phänomenologie und Sprachwissenschaft changierende, die Sachen selbst aufgrund des allen sprachlichen Unterscheidens eigenen Aufschubs provokant verfehlende Unternehmen der Dekonstruktion; die Systemtheorie mit ihrem Fokus auf die selbst-referentielle, streckenweise an Paradoxien auflaufende Natur des Sozialen; und der unter Rückgriff auf die lacansche Psychoanalyse und die Dekonstruktion renovierte Marxismus mit seinem defätistischen Bemühen, das Reale als leeren Signifikanten des Unbegreiflichen zu begreifen.
Aktualisiert: 2020-10-29
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