Nausikaa Schirilla
Einführung
Was hat interkulturelles Philosophieren mit feministischem Denken und Gender-Debatten zu tun? Aus der feministischen Kritik vor allem der zweiten Frauenbewegung und den gender studies ergaben sich viele Fragen an die und in der Philosophie: Für feministisches Philosophieren in Europa und dem angelsächsischen Raum spielten lange Zeit Themen wie eine Kritik der Vernunft als männlich dominiertem Begriff, Philosophie der Geschlechterdifferenz, »weibliche« Moral, care etc. eine zentrale Rolle. Die in den achtziger Jahren vor allem von Judith Butler eingebrachte Infragestellung der Homogenität weiblich konnotierter Erfahrungen und der Universalität des Zwei-Geschlechtermodells führten zu einer verstärkten Rezeption poststrukturalistischer Ansätze. Feministisches Philosophieren, beispielsweise vertreten von Autorinnen wie Nagl-Docekal, Klinger, Irigaray, Gilligan, Tronto, formulierte in all seiner Diversität ein großes Fragezeichen hinsichtlich der Geschlechtsneutralität von Philosophie und insbesondere von Begriffen wie Vernunft, Subjekt, Autonomie, Identität. Feministische Philosophie richtete sich ähnlich wie interkulturelles Philosophieren am Rande des philosophischen Mainstreams ein und wurde so randständig etabliert.
Aber Philosophinnen brachten früh Fragen wie Rassismus und (Neo-)kolonialismus in philosophische Debatten zu Feminismus und Gender ein. Sie wiesen auf normierende und rassifizierte Gender-Konstruktionen und auf die Reproduktion globaler Machtverhältnisse auch innerhalb der feministisch orientierten Bewegungen hin. Die Universalität analytischer Konzepte wie Patriarchat und Gender wurde ebenso in Frage gestellt wie die Universalität normativer Begriffe wie Emanzipation, Geschlechtergerechtigkeit etc. Im Grunde genommen erfolgte eine ähnliche Denkbewegung wie die des feministischen Philosophierens, nämlich eine Infragestellung scheinbarer neutraler Kategorien und ihre Dekonstruktion als partikular und machtbezogen. Auch die oft geleugnete Kulturgebundenheit westlicher feministischer Denkerinnen wurde kritisiert.
Regionale, religionsbasierte wissenschaftskritische und vor allem postkoloniale und dekoloniale Ansätze weisen auf die den Kolonialismus legitimierende Funktion von Frauenbefreiungsdiskursen hin, stellen globale Konzepte wie Gender oder Geschlechtergleichheit in Frage und verweisen auf alternative Geschlechterkonstruktionen wie alternative Modelle des Geschlechterverhältnisses und andere, neue Quellen verändernden Denkens. Wichtig waren auch Versuche, die strukturelle Verquickung von Geschlechterverhältnissen mit kolonialer Gewalt, Heteronormativität und anderen Differenzen neu zu denken. Die vor allem in den Sozial- und Literaturwissenschaften vollzogene Anwendung dekolonialer und postkolonialer Kritik auf Gender- Debatten und feministisches Denken muss noch stärker philosophisch weiterentwickelt werden.
Reflexionen auf exkludierende Konzeptionen des Wissens eröffnen auch neue Blicke auf philosophische gender-/frauenrelevante oder indigene Denktraditionen jenseits dessen, was in »westlicher« Perspektive als emanzipatorisch oder befreiend gilt und als in mehrfacher Hinsicht marginalisiertes Denken. Diese Denkansätze gehen oft auch einher mit realen Kämpfen um Autonomie, um Land, gegen Umweltzerstörung, für communities etc. Aus der Perspektive weiblich konnotierter Verantwortlichkeiten wurden auch neue Gegenstandsbereiche interkulturellen Philosophierens eröffnet, wie beispielsweise Heilung, Leiden, Schweigen etc. und des Weiteren wurden feministische Theorien im Kontext anderer Zivilisationen, wie beispielsweise islamischer Feminismus, weiterentwickelt.
Die letzte Nummer von polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren zu einem »Frauenthema« erschien 1999 (polylog Nr. 4) und widmete sich unter dem Titel: »Frau und Kultur« der Frage der Kulturalisierung und Kolonialisierung von Differenz.
Die aktuelle Nummer soll die eingangs erwähnten Debatten weiterführen und bringt Beiträge aus einer Zeitspanne der beiden letzten Jahrzehnte. Sie gibt auf der einen Seite einen kleinen Einblick in die Vielfalt von Debatten zu Feminismus und Geschlechtergerechtigkeit in den Ländern des globalen Südens. Dies leisten die Artikel von Patricia Mc Fadden und Jimena Néspolo. Beide Beiträge stellen jeweils eine Momentaufnahme feministischen Denkens in einem Kontext des globalen Südens dar. Sowohl auf dem afrikanischen Kontinent als auch in Lateinamerika gibt es viele andere Ansätze – viele, die auch das Attribut feministisch ablehnen und neue Konzepte wie »womanism« kreieren oder sich auf im globalen Süden doppelt unterdrückte indigene Traditionen beziehen. Einen Überblick über feministisches Denken weltweit gibt das im Rezensionsteil besprochene Buch von Graness, Kopf und Kraus.
Auf der anderen Seite thematisiert diese Nummer die dekoloniale und postkoloniale Herausforderung für feministisches Denken. Wir haben daher einen programmatischen Text der feministischen Philosophin Maria Lugones übersetzt und bringen einen Beitrag von Nkiru Nzwegwu, einer der wichtigsten Kritikerinnen der Universalität des Gender-Konzepts.
Patricia McFadden hält in ihrem Beitrag ein leidenschaftliches Plädoyer für die Bedeutung sexueller Freiheit und sexuellen Genusses im Kontext eines afrikanischen Feminismus. Ihre Position ist inspiriert von Schriften afro – amerikanischer Denkerinnen wie Audre Lorde; sie betrachtet sexuellen Genuss und Freiheit als ein befreiendes Element und kritisiert Debatten und auch gesetzliche Regelungen, die die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen einschränken, insbesondere im Kontext der Reaktion auf die HIV-Pandemie.
Jimena Néspolo debattiert die für den lateinamerikanischen Kontext eminent wichtige Frage des Feminizids und versucht zu ergründen, wieso trotz zunehmender und artikulierter öffentlicher Proteste dieser nicht zurückgeht und sucht die Erklärung dafür eher auf der Ebene des Symbolischen. Der weibliche Körper wird ihr zufolge zu einem Objekt medialer Inszenierung, die durch eine spezifische feministische Performanz verstärkt werde.
Zu den in interkultureller Perspektive diskutierten Themen gehört auch die Frage, ob die Unterdrückung von Frauen ein universales Phänomen sei. Dies wurde bereits auf dem Hintergrund von queer und gender studies negativ beantwortet, denn die Einheitlichkeit von Frausein und überhaupt Zweigeschlechtlichkeit werden als Konstruktion begriffen und als Zwang zur Normierung von Differenzen, die zwischen Polen fließend verstanden werden sollen. Aber auch der Gender-Begriff wird in seiner globalen Gültigkeit in Frage gestellt. Gender, so argumentieren Autorinnen wie Nzegwu oder Oyewumi, sei ein westliches Konstrukt, der Begriff beruhe auf westlichen Interpretationen der Gesellschaft und stelle letztlich einen partikularen kulturellen Diskurs dar, der nicht auf andere Kulturen oder Gesellschaften zu übertragen sei. Gender sei beispielsweise in einer Analyse der vorkolonialen Yoruba Gesellschaft keine zentrale Kategorie. Soziale Hierarchien wurden entlang anderer Unterscheidungsmerkmale konstruiert, vor allem entlang von Kategorien des Alters beziehungsweise der Seniorität und der Verwandtschaft. Daran knüpft Nkiru Nzegwu in ihrem Beitrag an. Nzegwu begreift Gender als eine imperialistische Kreation in dem Sinne, dass soziale Beziehungen durch Geschlechterbeziehungen hierarchisch überformt seien. Diese Kritik bezieht sie auf die Rezeption afrikanischer Kunst in Europa, um durch diese Kritik hindurch kreative und Handlungspotentiale von Frauen in afrikanischen Gesellschaften freizulegen.
In dem Beitrag von Maria Lugones – einer für Feministinnen der Länder des globalen Südens und insbesondere Lateinamerikas extrem einflussreichen Denkerin – geht es um (Neo-)kolonialismus und Dominanz des Gender-Regimes. Lugones beschäftigt vor allem die Frage befreiender Perspektiven in Denken und Handeln in vielfachen Dominanzverhältnissen sowie die Frage danach, wie Handlungsfähigkeit in einem relationalen Sinne im Kontext verschiedener Unterdrückungsmechanismen zu denken sei.
Erst im Nachhinein stellen wir fest, dass in dieser Nummer die Frage nach Handlungsfähigkeit im Kontext von Unterdrückungszusammenhängen von allen Autorinnen gestellt wird und ein verbindendes Element in den nach einer anderen Logik ausgesuchten heterogenen Beiträgen darstellt. Vielleicht beinhaltet dies eine wichtige Inspiration für ein Denken in anderen Zusammenhängen. Wenn interkulturelles Philosophieren so verstanden wird, spezifische Denkansätze zu provinzialisieren in dem Sinne, dass eine orts- und kulturgebundene Vielfalt an Konzepten der Philosophie, Vernunft, des Feminismus etc. gedacht wird, dann gilt dies zugleich auch für veränderndes Handeln, Emanzipation etc. – die oft als spezifisch westliche Errungenschaften begriffen werden.
Die in dieser Nummer zusammengestellten Beiträge sind nicht alle explizit philosophisch, da die erwähnten Debatten vor allem in den Literaturwissenschaften, Kunsttheorien und Sozialwissenschaften geführt werden. Die Beiträge betreffen zentrale philosophische Fragen und es bleibt zu hoffen, dass diese polylog Nummer dazu beiträgt, interkulturelles Philosophieren zu Gender- und Frauenthemen weiter zu beflügeln.
Aktualisiert: 2020-12-31
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