Seit der Entstehung großer deutscher Industrieunternehmen gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren deren Organisationsformen über viele Jahrzehnte hinweg nahezu unverändert geblieben. Demgegenüber scheinen sich Unternehmen gegenwärtig ungleich häufiger die Frage nach der „richtigen Organisation“ zu stellen und organisatorische Veränderungen sind fast an der Tagesordnung. Eine besonders intensive Phase der organisatorischen Veränderungen erlebten deutsche Unternehmen vor allem im Zeitraum zwischen 1965 und 1975, als sie sich mit erheblicher Verzögerung am Vorbild US-amerikanischer Großunternehmen orientierten und von der funktionalen zur multidivisionalen Organisationsform übergingen.
Dieser Prozess ist in der Literatur als folgerichtig beschrieben worden; gegenüber Expansion, Größenwachstum und Diversifikation habe nur die Divisionalisierung den passenden organisatorischen Rahmen geboten. Die Vehemenz, mit der diese These nach wie vor vertreten wird, steht in auffälligem Kontrast zu der Tatsache, dass der organisatorische Wandel der Unternehmen in den 1960er- und 1970er-Jahren bisher historisch kaum untersucht worden ist. Hier liegt der Ansatz der Doktorarbeit. Am Beispiel der Frankfurter Metallgesellschaft (MG), des damals größten Unternehmens der deutschen Nichteisenmetallwirtschaft und eines der zwanzig größten deutschen Industrieunternehmen, wurde der organisatorisch Strukturwandel in den 60er und 70er Jahren untersucht. Es stellte sich hierbei die Frage, warum sich auch die Metallgesellschaft dem Trend anpasste und ebenfalls die multidivisionale Organisationsform einführte und welche Konsequenzen dies hatte. Vor allem den Wandel der Corporate Governance-Strukturen (das System der internen und externen Kontroll-, Lenkungs- und Überwachungsmechanismen) und die Kapitalsituation des Unternehmens galt es dabei im Blick zu behalten. Die MG stellt in diesem Zusammenhang ein besonders gutes Beispiel dar. Denn noch Ende der Sechzigerjahre verfügte die Metallgesellschaft über keine festgeschriebene organisatorische Gliederung, was sie zu einer Besonderheit unter den deutschen Großunternehmen machte. Zwar stand die vergleichsweise kleine Metallgesellschaft durch Aktienmehrheiten und ihre Aktivitäten im Metallhandel im Mittelpunkt und war mehr oder weniger eng mit den einzelnen Sektoren verbunden, aber der weitaus größere Teil der Beschäftigten aus dem „MG-Bereich“ war in Firmen mit eigener Tradition und ausgeprägter eigener Geschäftspolitik tätig. Sich selbst bezeichnete man bei der Metallgesellschaft auch nicht als „MG-Konzern“, sondern eher als „Verbund“. Auch die Bezeichnung „Commonwealth“ findet sich.
Für den Neubeginn der MG in der Nachkriegszeit war vor allem die Rückkehr von Richard Merton (Sohn des Firmengründers Wilhelm Merton) aus dem Exil und der Wiedereintritt von Alfred Petersen (bereits vor dem Ersten Weltkrieg Vorstand der MG) von besondere Bedeutung. Recht früh verfügte das Unternehmen somit wieder über eine Konzernspitze, die sich aus unbelasteten, international anerkannten Fachleuten zusammensetzte. Der Gedanke an eine Wiederanknüpfung an die Größe und die Bedeutung der Vorkriegs-MG bestimmte die unternehmerische Zielsetzung in den 1950er-Jahren, zumal auch organisatorisch wurde an die „alte MG“ angeknüpft wurde. Es blieb bei der traditionell dezentralen Aufstellung des MG-Verbundes und der weitgehenden Selbstständigkeit der Geschäftsführungen der Tochter- und Organgesellschaften. Im Vergleich zu anderen Großunternehmen, die zu diesem Zeitpunkt bereits über ausgeklügelte Kostenrechnungen und Investitionsplanungen verfügten, blieben die Kontroll- und Planungsbemühungen des MG-Verbunds bis in die sechziger Jahre hinein deutlich zurück.
Erst durch die nun erfolgte Besetzung des Aufsichtsratsvorsitzes mit einem Vertreter der Dresdner Bank wurde die Metallgesellschaft im Hinblick auf ihre Governance-Struktur zu einer „normalen“ Aktiengesellschaft. Bis dahin hatte sich Richard Merton als Aufsichtsratsvorsitzender regelmäßig direkt in das Tagesgeschäft eingeschaltet. Jetzt wurde der Aufsichtsrat zu einem Kontrollgremium und vertrat wesentlich deutlicher als dies vorher der Fall gewesen war die Interessen der Anteilseigner (Dresdner Bank, Siemens, Henkel).
In der Folgezeit wurde der Aufsichtsrat zu einem bedeutenden Faktor innerhalb der unternehmerischen Entscheidungsprozesse. Geplante Investitionen und Beteiligungen mussten nun in viel größerem Maß dem prüfenden Blick des Kontrollgremiums standhalten. Innerhalb der Unternehmensleitung setzte sich schon bald die Absicht durch, bei den großen Tochtergesellschaften eine unmittelbare Führungsverantwortung zu übernehmen und sich darüber hinaus eine adäquate „moderne“ Organisationsform zu geben, auf die der Aufsichtsrat besonderen Wert legte. Insbesondere die Mode der Divisionalisierung, die zeitgleich in deutschen Unternehmen großen Zuspruch fand, wurde aufmerksam verfolgt.
Signifikant für den Divisionalisierungsprozess des MG-Verbundes war die Absicht, für eine stärkere Zentralisierung von Entscheidungen und eine Vereinheitlichung von Planung, Rechnungswesen und Personalmanagement zu sorgen. Also genau das Gegenteil dessen, was von Chandler und anderen als Sinn und Zweck (Dezentralisierung, Schaffung kleinerer Einheiten, Entlastung des Vorstandes etc.) der Einführung der M-Form formuliert worden war.
Darüber hinaus blieben die direkten personellen und organisatorischen Folgen der im Juli 1972 erfolgten Organisationsreform marginal. Die bisherigen Tochterunternehmen und Mehrheitsbeteiligungen wurden fast ohne weitere strukturelle Veränderungen in die Unternehmensbereiche überführt. Dies führte u.a. dazu, dass selbst direkt Beteiligte die Umstrukturierung im Nachhinein mit den Worten kommentierten, man sei einer Mode gefolgt und habe an bestehende Kästchen „neue Zettel drangeklebt“. Dennoch dürfen die Konsequenzen der Strukturreform im Hinblick auf die Entscheidungsprozesse nicht unterschätzt werden. Vor der Strukturreform war es dem MG-Vorstand möglich, Probleme und Misserfolge der Tochtergesellschaftern zuerst als „personelle Probleme“ anzusehen und dementsprechend mit Veränderungen im dortigen Vorstand zu reagieren und damit „zu lösen“. Demgegenüber war die Aufgabe, Investitions- und Planungsentscheidungen für die bisher stark eigenständig handelnden Tochterunternehmen zu treffen wesentlich schwieriger, denn dies setzte detaillierte Informationen und die nötige Sachkenntnis im Vorstand voraus. Zumal das Führungsgremium nun auch die direkte Verantwortung für von ihm getroffenen und den ganzen Konzern betreffende Entscheidungen direkt zu übernehmen hatte.
Zusammenfassend lässt sich folgendes kurzes Fazit ziehen: Die Thesen Chandlers sind im Hinblick auf die Unternehmensgeschichte der MG deutlich zu relativieren. Im Hinblick auf die unternehmerischen Entscheidungsprozesse war der Aufbau einer zentralen Finanzabteilung wesentlich bedeutsamer, die Divisionalisierung stelle eher eine Umetikettierung dar. Zumal die MG die Organisationsreform mit einer vollkommen an-deren Zielsetzung durchführte und durch sie nicht wirklich erfolgreicher agierte. Diese Einzelfallstudie zur MG machte vor allem deutlich, dass die organisatorischen Veränderungsprozesse von Unternehmen nicht rezepthaft erfolgen, sonder viel eher historisch-kontingent ablaufen. Bei der MG wurden Unternehmensplanung und Controlling zu den beherrschenden Instrumenten zur Bewältigung der ungewissen Zukunft, wenn auch die Prognosen über den zu erwartenden Geschäftsverlauf kaum einmal zutrafen. Doch die Übernahme und Umsetzung moderner Managementmethoden ermöglichte es den Entscheidungsbefugten, evtl. auftretende, unvorhergesehene Fehlentwicklungen umzudeuten in unvorhersehbare, der Umwelt des Unternehmens (Markt, Konjunktur, Wirtschaftspolitik) geschuldete Ereignisse und versprach „mildernde Umstände“ bei der Schuldzuweisung, wenn Planzahlen nicht erreicht wurden und die Einschätzung der Marktlage getrogen haben sollte.
Aktualisiert: 2018-07-12
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