Am Beispiel des Lebenswerks von Albert Zeller, seinen wissenschaftlichen Reisen und seinen Beziehungen zu Kollegen und Patienten wird die zunehmende Bedeutung des Wissenstransfers im 19. Jahrhundert für die europäische Psychiatrie beleuchtet. Illustriert werden die Texte mit dem reichhaltigen Material einer Ausstellung, die das viel beachtete Wirken von Albert Zeller in der ersten württembergischen Heilanstalt Winnenthal darstellt.
Im Mittelpunkt des ersten Beitrags steht die Edition des psychiatrischen Reisetagebuch von Albert Zeller aus den Jahren 1832 und 1833, seine Entstehung und die lange Geschichte, es einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Beschrieben werden der Werdegang des jungen Albert Zeller bis zum Beginn seiner Reise, sowie die medizinischen, philosophischen und religiösen Einflüsse, die seine Sichtweise geprägt haben. Näher eingegangen wird dann auf den Auftrag der Medizinalbehörde, die durch die Reise gewonnen Erkenntnisse, für den Aufbau der ersten württembergischen Heilanstalt in Winnenthal zu nutzen. Es folgt die Einschätzung der Bedeutung, die Winnenthal unter der Leitung Albert Zellers für die Entwicklung der gesamten Psychiatrie erlangt hat.
Gegenstand des zweiten Beitrags sind die Erlebnisse und Erkenntnisse der Dienstreise Alberts Zellers zum Studium psychiatrischer Einrichtungen. Seine Reise führte ihn in eine Reihe von Einrichtungen in deutschen Landen, in England, Schottland und Frankreich. Zunächst wird in einem ersten, allgemein-wissenschaftshistorischen Teil das Phänomen, die Funktionen und die möglichen Ergebnisse der Reisen von Psychiatern (des 19. Jahrhunderts) zu dienstlichen Zwecken diskutiert, bevor im zweiten Teil das Reisetagebuch in den medizinhistorischen Kontext eingebettet wird. Abschließend wird Zellers Reise in den Zusammenhang der Reisen weiterer württembergischer Psychiater gestellt.
Im dritten Beitrag wird Albert Zellers Tagebuch in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive untersucht. Dabei steht dessen Einbettung in den allgemeinen historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext im Vordergrund. Durch seine inhaltlichen und formalen Bezüge auf diesen Kontext wird das Tagebuch Zellers als mentalitätsgeschichtlich relevante Quelle ausgewiesen. Sozialhistorische Voraussetzung der Forschungsreise war die reformorientierte und auf einen internationalen Wissenstransfer setzende Sozialpolitik unter dem württembergischen König Wilhelm I. Neben seiner fachwissenschaftlich-medizinhistorischen Bedeutung entfaltet das Tagebuch aber seinen Wert auch als Beleg für die geistesgeschichtlich komplexe Frühphase des psychiatrischen Wissenschaftsdiskurses, sowie der württembergischen Anstaltspsychiatrie und ermöglicht Einblicke in die Persönlichkeit des ersten Winnenthaler Anstaltsdirektors.
Der vierte Beitrag behandelt die Erfahrungen eines Kollegen mit Albert Zeller. Ludwig Binswanger sen. (1820-1880), der spätere Leiter der Kreuzlinger Privatanstalt „Bellevue“, hospitierte im Jahr 1850 für einige Wochen bei Albert Zeller in der württembergischen Heilanstalt Winnenthal, um sich Anregungen für das Direktorat der Anstalt Münsterlingen im Schweizer Kanton Thurgau zu holen, das er danach antrat. Seine Beobachtungen hielt er in einem Büchlein fest, das hier ediert wird. Seine Beobachtungen gelten den baulichen Verhältnissen, den praktischen Einrichtungen des Hauses und dem Umgang Zellers mit den Kranken. In lockerer Folge notiert er ferner Literaturhinweise, Probleme, die er mit Zeller diskutiert, dessen Anregungen zur psychiatrischen Therapie, und beschäftigt sich mit einzelnen Kranken. Man gewinnt aus dem Dokument konkrete Eindrücke über den Anstaltsalltag in Winnenthal und über die Anregungen, die Binswanger von Zeller mitnehmen und verwerten konnte.
Im fünften Beitrag stehen die Patienten im Mittelpunkt. Das 19. Jahrhundert stellt in der europäischen Psychiatriegeschichte eine Ära des Aufbruchs und der Innovation dar. Wie nie zuvor wurden von engagierten Psychiatern therapeutische Konzepte für die Behandlung psychisch kranker Menschen, die damals weitestgehend eine stationäre, langjährige Behandlung in sogenannten Irrenanstalten war, entworfen, zum Teil kontrovers diskutiert und versucht, die therapeutischen Bemühungen auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Wie aber empfanden die Patienten dieser Tage? Teilten sich ihnen die Bemühungen ihrer Ärzte mit? Als Versuch der Beantwortung dieser Fragen werden in diesem Beitrag Briefe und tagebuchartige Aufzeichnungen von Patientinnen und Patienten (damals noch Pfleglinge genannt) präsentiert und interpretiert, wie sie sich in Krankenakten dieses Jahrhunderts aus Zwiefalten, Winnenden und Schussenried finden.
Aktualisiert: 2020-02-18
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