Dekarbonisierung ist das Schlüsselwort für die nächsten Dekaden. In historisch einmaliger Weise hat sich die Weltgemeinschaft im Pariser Abkommen zu diesem Ziel bekannt, wenn auch in der etwas unklareren Version der „Klimaneutralität“, die einem ganzen Bündel von Kompensationsmechanismen und fragwürdiger CO2-Bilanzierung das Tor öffnet. 2050 soll das Ziel erreicht werden. Seit der Unterzeichnung des Abkommens am 12. Dezember 2015 ist viel passiert: die Covid-19-Pandemie, einschließlich Wirtschaftskrise und der Ukraine-Krieg mit einer Explosion der Preise für Energie und Weizen. Und während das Pariser Abkommen noch aus einer Zeit der globalen Kooperation zu kommen scheint, stehen nun die Zeichen auf ein Revival von Geopolitik, das durch die Konkurrenz und Konfrontation großer Blöcke bestimmt ist. Ohne Zweifel, die Lage ist unübersichtlich und hat in Europa eine einigermaßen klar definierte Agenda für das Vorantreiben der Dekarbonisierung ins Wanken gebracht. Plötzlich ist Kohle wieder gefragt und die Brücken(-technologie) Gas in Teilen eingestürzt.
Aber 2022 kamen auch die Bilder von brennenden Wäldern nicht mehr nur aus Amazonien, sondern auch aus Frankreich und Brandenburg. Eine lange Periode der Trockenheit und ungekannte Hitzewellen haben das Klimathema wieder zurück in die öffentliche Aufmerksamkeit gebracht, so wie das Ziel, zumindest langfristig weitgehend von Öl und Gas unabhängig zu werden. Trotz vieler Verwirrungen für die kurzfristigen Perspektiven bleibt also die Langzeitperspektive Dekarbonisierung/Klimaneutralität aktuell, und wird sowohl im deutschen Klimaschutzplan wie in dem European Green Deal der EU konkretisiert.
Es ist dieser Kontext, der dem Konzept einer „Bioökonomie“ Bedeutung verleiht. Zwar konzentrieren sich in Europa die Kräfte der Dekarbonisierung auf den Ausbau von Wind- und Sonnenenergie, welche nicht zur Bioökonomie zu rechnen sind. Aber der Einsatz natürlicher Ressourcen (als Biomasse) ist sozusagen die zweite Säule für die Strategien der Dekarbonisierung und hat auch bereits jetzt eine große Bedeutung, die gerade in Europa oft unterschätzt wird. Das Verbrennen von Holz zu Heizzwecken, der Einsatz von „Biosprit“, all das ist Bioökonomie. Dazu kommt, dass die bioenergetische Nutzung nachwachsender Rohstoffe in Europa nach wie vor die meistgenutzte erneuerbare Energiequelle ist.
Bioökonomie ist daher mehr als ein Buzzword und eine Modeerscheinung, es ist eine entscheidende Baustelle der Dekarbonisierung. Allerdings ist Bioökonomie auch ein sehr weit gefasstes Feld, das von unterschiedlichen Akteuren aufgriffen wird. Landwirtschaft gehört nach allen gängigen Definitionen zu Bioökonomie. Vor diesem Hintergrund ist Bioökonomie auch ein Feld, in dem global um Welternährung und/oder Ernährungssouveränität gerungen wird. Ankoppeln können sich an das Konzept auch die Konzerne, die durch Gentechnologie, Digitalisierung und massiven Einsatz von Agrargiften die Produktivität der Landwirtschaft steigern wollen, um so ‚die Welt zu ernähren‘. In dieser Gemengelage wird die Bioökonomie zugleich zum Hoffnungsträger wie zum Schreckgespenst. Mehr als ein klar definiertes Konzept markiert Bioökonomie eine Kampfzone verschiedener gesellschaftlicher Kräfte und ihrer Visionen einer sozial-ökologischen Transformation.
Diese Kampfzone ist so global wie die Landwirtschaft. Es ist inzwischen Allgemeinwissen, dass die europäische Landwirtschaft von Importen abhängig ist. Das gesamte Modell der hiesigen Fleischproduktion hängt an Sojaimporten aus Argentinien, Brasilien und den USA. Umgekehrt ist das Agrarmodell dieser Länder abhängig von den multinational agierenden Chemie- und Saatgutkonzernen wie Bayer/Monsanto und BASF. Für die Bioökonomie und deren Nachhaltigkeitsanspruch ist die Frage zentral, wo die notwendige Biomasse herkommen soll und unter welchen Bedingungen sie produziert wird. In diesem Kontext richtet die vorliegende Publikation den Blick auf Lateinamerika, mit deutlichem Schwerpunkt auf Brasilien. Denn wenn es ein Bioökonomieland auf diesem
Planeten gibt, dann ist es Brasilien –ein Gigant aufgrund seiner Natur, wie es in der brasilianischen Nationalhymne heißt.
Die Beiträge von Thomas Fatheuer (Kapitel 2 und 3) analysieren das Beispiel Brasilien und zeigen auf, wie in der tropischen Agrargroßmacht Bioökonomie vom Agrobusiness gekapert worden ist. Aber dabei dient Bioökonomie nicht nur dem Greenwashing des Agrobusiness, es ist auch ein Werkzeug, technologische Innovationen voranzutreiben und den Agrarsektor als Teil einer Dekarbonisierungsrhetorik neu aufzustellen. In diesem Kontext kommt dem ausführlich abgehandelten Zuckerrohr-Ethanol-Komplex eine herausragende und strategische Bedeutung zu. Allerdings fehlt der brasilianischen Bioökonomie ein belastbares Konzept von Nachhaltigkeit und eine Transformationsperspektive. Wie die Einordnung in das größere Bild der Entwicklung der Energieversorgung in Brasilien zeigt: zusammen mit dem Bioökonomiesektor soll auch die Förderung von Erdöl und Gas wachsen.
Der Beitrag von Thomas Vogelpohl vertieft einen zentralen Aspekt des brasilianischen Modells der Bioökonomie (Kapitel 4). Deren dynamischster Sektor ist die Produktion von Ethanol auf der Basis von Zuckerrohr. Mit dem Programm Renavabio soll nun auch das Potential eines CO2-Marktes erschlossen werden, eine Schlüsselstrategie in der neoliberalen Vision der Dekarbonisierung.
Fabricio Rodríguez beleuchtet in seinem Beitrag die unterschiedlichen Facetten des Handels mit Agrarprodukten, die im Kontext der Bioökonomie nun auch zur Biomasse deklariert werden (Kapitel 5). Dieser Handel reproduziert globale Ungleichheiten und es fehlt ihm jeglicher Bezug zu Gerechtigkeitsfragen und der Überwindung der sozialen Spaltung der Welt.
Ein kurzer Ausblick auf weitere Länder des Subkontinents (Kapitel 6) mit den Beiträgen von Anne Tittor, Philip Koch und Thomas Fatheuer zeigt in Argentinien ähnliche Tendenzen wie in Brasilien, während in Ecuador und Kolumbien Bioökonomie mit einer anderen Bedeutung verbunden wird. In diesen Ländern ist Bio nicht das neue Wort für Agro, sondern es stellt den Bezug zur Biodiversität her. Beide Länder sehen Biodiversität als strategische Ressource und in deren kommerzieller Nutzung einen wichtigen Baustein für eine Green Economy.
Dem Resümee (Kapitel 8) zu dieser Publikation nachgestellt findet sich als Anhang ein ergänzender Beitrag von Camila Moreno (Kapitel 9). Sie versucht sich in einen Überblick über das komplexe globale Koordinatenfeld, in dem die Bioökonomie heute eingelassen ist und zeichnet nach, wie sich die Agenda für eine Bioökonomie im Kontext eines globalen Klima- und Umwelt-Governance-Rahmens entwickelt. Der Text kann in seiner Kürze nicht alle diese Felder analysieren, er bietet jedoch Anstöße für weitere Debatten und zeigt die vielfältigen sowie teilweise widersprüchlichen globalen Tendenzen im Übergang zu einer „Green Economy“ auf.
Aktualisiert: 2023-05-11
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Dekarbonisierung ist das Schlüsselwort für die nächsten Dekaden. In historisch einmaliger Weise hat sich die Weltgemeinschaft im Pariser Abkommen zu diesem Ziel bekannt, wenn auch in der etwas unklareren Version der „Klimaneutralität“, die einem ganzen Bündel von Kompensationsmechanismen und fragwürdiger CO2-Bilanzierung das Tor öffnet. 2050 soll das Ziel erreicht werden. Seit der Unterzeichnung des Abkommens am 12. Dezember 2015 ist viel passiert: die Covid-19-Pandemie, einschließlich Wirtschaftskrise und der Ukraine-Krieg mit einer Explosion der Preise für Energie und Weizen. Und während das Pariser Abkommen noch aus einer Zeit der globalen Kooperation zu kommen scheint, stehen nun die Zeichen auf ein Revival von Geopolitik, das durch die Konkurrenz und Konfrontation großer Blöcke bestimmt ist. Ohne Zweifel, die Lage ist unübersichtlich und hat in Europa eine einigermaßen klar definierte Agenda für das Vorantreiben der Dekarbonisierung ins Wanken gebracht. Plötzlich ist Kohle wieder gefragt und die Brücken(-technologie) Gas in Teilen eingestürzt.
Aber 2022 kamen auch die Bilder von brennenden Wäldern nicht mehr nur aus Amazonien, sondern auch aus Frankreich und Brandenburg. Eine lange Periode der Trockenheit und ungekannte Hitzewellen haben das Klimathema wieder zurück in die öffentliche Aufmerksamkeit gebracht, so wie das Ziel, zumindest langfristig weitgehend von Öl und Gas unabhängig zu werden. Trotz vieler Verwirrungen für die kurzfristigen Perspektiven bleibt also die Langzeitperspektive Dekarbonisierung/Klimaneutralität aktuell, und wird sowohl im deutschen Klimaschutzplan wie in dem European Green Deal der EU konkretisiert.
Es ist dieser Kontext, der dem Konzept einer „Bioökonomie“ Bedeutung verleiht. Zwar konzentrieren sich in Europa die Kräfte der Dekarbonisierung auf den Ausbau von Wind- und Sonnenenergie, welche nicht zur Bioökonomie zu rechnen sind. Aber der Einsatz natürlicher Ressourcen (als Biomasse) ist sozusagen die zweite Säule für die Strategien der Dekarbonisierung und hat auch bereits jetzt eine große Bedeutung, die gerade in Europa oft unterschätzt wird. Das Verbrennen von Holz zu Heizzwecken, der Einsatz von „Biosprit“, all das ist Bioökonomie. Dazu kommt, dass die bioenergetische Nutzung nachwachsender Rohstoffe in Europa nach wie vor die meistgenutzte erneuerbare Energiequelle ist.
Bioökonomie ist daher mehr als ein Buzzword und eine Modeerscheinung, es ist eine entscheidende Baustelle der Dekarbonisierung. Allerdings ist Bioökonomie auch ein sehr weit gefasstes Feld, das von unterschiedlichen Akteuren aufgriffen wird. Landwirtschaft gehört nach allen gängigen Definitionen zu Bioökonomie. Vor diesem Hintergrund ist Bioökonomie auch ein Feld, in dem global um Welternährung und/oder Ernährungssouveränität gerungen wird. Ankoppeln können sich an das Konzept auch die Konzerne, die durch Gentechnologie, Digitalisierung und massiven Einsatz von Agrargiften die Produktivität der Landwirtschaft steigern wollen, um so ‚die Welt zu ernähren‘. In dieser Gemengelage wird die Bioökonomie zugleich zum Hoffnungsträger wie zum Schreckgespenst. Mehr als ein klar definiertes Konzept markiert Bioökonomie eine Kampfzone verschiedener gesellschaftlicher Kräfte und ihrer Visionen einer sozial-ökologischen Transformation.
Diese Kampfzone ist so global wie die Landwirtschaft. Es ist inzwischen Allgemeinwissen, dass die europäische Landwirtschaft von Importen abhängig ist. Das gesamte Modell der hiesigen Fleischproduktion hängt an Sojaimporten aus Argentinien, Brasilien und den USA. Umgekehrt ist das Agrarmodell dieser Länder abhängig von den multinational agierenden Chemie- und Saatgutkonzernen wie Bayer/Monsanto und BASF. Für die Bioökonomie und deren Nachhaltigkeitsanspruch ist die Frage zentral, wo die notwendige Biomasse herkommen soll und unter welchen Bedingungen sie produziert wird. In diesem Kontext richtet die vorliegende Publikation den Blick auf Lateinamerika, mit deutlichem Schwerpunkt auf Brasilien. Denn wenn es ein Bioökonomieland auf diesem
Planeten gibt, dann ist es Brasilien –ein Gigant aufgrund seiner Natur, wie es in der brasilianischen Nationalhymne heißt.
Die Beiträge von Thomas Fatheuer (Kapitel 2 und 3) analysieren das Beispiel Brasilien und zeigen auf, wie in der tropischen Agrargroßmacht Bioökonomie vom Agrobusiness gekapert worden ist. Aber dabei dient Bioökonomie nicht nur dem Greenwashing des Agrobusiness, es ist auch ein Werkzeug, technologische Innovationen voranzutreiben und den Agrarsektor als Teil einer Dekarbonisierungsrhetorik neu aufzustellen. In diesem Kontext kommt dem ausführlich abgehandelten Zuckerrohr-Ethanol-Komplex eine herausragende und strategische Bedeutung zu. Allerdings fehlt der brasilianischen Bioökonomie ein belastbares Konzept von Nachhaltigkeit und eine Transformationsperspektive. Wie die Einordnung in das größere Bild der Entwicklung der Energieversorgung in Brasilien zeigt: zusammen mit dem Bioökonomiesektor soll auch die Förderung von Erdöl und Gas wachsen.
Der Beitrag von Thomas Vogelpohl vertieft einen zentralen Aspekt des brasilianischen Modells der Bioökonomie (Kapitel 4). Deren dynamischster Sektor ist die Produktion von Ethanol auf der Basis von Zuckerrohr. Mit dem Programm Renavabio soll nun auch das Potential eines CO2-Marktes erschlossen werden, eine Schlüsselstrategie in der neoliberalen Vision der Dekarbonisierung.
Fabricio Rodríguez beleuchtet in seinem Beitrag die unterschiedlichen Facetten des Handels mit Agrarprodukten, die im Kontext der Bioökonomie nun auch zur Biomasse deklariert werden (Kapitel 5). Dieser Handel reproduziert globale Ungleichheiten und es fehlt ihm jeglicher Bezug zu Gerechtigkeitsfragen und der Überwindung der sozialen Spaltung der Welt.
Ein kurzer Ausblick auf weitere Länder des Subkontinents (Kapitel 6) mit den Beiträgen von Anne Tittor, Philip Koch und Thomas Fatheuer zeigt in Argentinien ähnliche Tendenzen wie in Brasilien, während in Ecuador und Kolumbien Bioökonomie mit einer anderen Bedeutung verbunden wird. In diesen Ländern ist Bio nicht das neue Wort für Agro, sondern es stellt den Bezug zur Biodiversität her. Beide Länder sehen Biodiversität als strategische Ressource und in deren kommerzieller Nutzung einen wichtigen Baustein für eine Green Economy.
Dem Resümee (Kapitel 8) zu dieser Publikation nachgestellt findet sich als Anhang ein ergänzender Beitrag von Camila Moreno (Kapitel 9). Sie versucht sich in einen Überblick über das komplexe globale Koordinatenfeld, in dem die Bioökonomie heute eingelassen ist und zeichnet nach, wie sich die Agenda für eine Bioökonomie im Kontext eines globalen Klima- und Umwelt-Governance-Rahmens entwickelt. Der Text kann in seiner Kürze nicht alle diese Felder analysieren, er bietet jedoch Anstöße für weitere Debatten und zeigt die vielfältigen sowie teilweise widersprüchlichen globalen Tendenzen im Übergang zu einer „Green Economy“ auf.
Aktualisiert: 2023-02-09
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