Der Titel such.spuren wirft Fragen auf und enthüllt zugleich das poetologische Programm: Handelt es sich um ein Kompositum? Sind es zwei getrennte Wörter? Holt der Punkt die Wortelemente in eine große Nähe, setzt er sie in Beziehung zueinander oder markiert er eine mögliche Nicht-Zusammengehörigkeit? Hebt er eine enge Verbindung auf? Signalisiert er ein Zögern? Stellt er die Wortbeziehung in Frage?
Gesucht (und gefunden) werden in Sarclettis Gedichten Spuren von Bedeutungen, von Sinn und Schönheit, von Emotionen und Erinnerungen. Der sich in die Wörter, zwischen die Bausteine der Wörter schiebende Punkt ist vielleicht das signifikativste Stilmerkmal der lyrischen Sprache Sarclettis. Er markiert Zusammengehörigkeiten und Differenzen und damit die tatsächlichen Spuren des Lebens.
Der Gedichtband umfasst vier Zyklen: „närrin“, „ge(h)dichte“, „im Krebsgang“, „die königin überdauert den winter“. Das Coverbild und die Bilder zu Beginn des jeweiligen Zyklus stammen von der Autorin selbst. In ihnen werden die Gedichte zu Bildern. Die Aquarelle (gearbeitet mit Pastellkreide) weisen sanfte Farben und weiche fließende Linien auf. Auf dem Coverbild und den ersten drei Bildern erkennt man zarte, nur angedeutete Frauengestalten. Das Bild zum vierten Zyklus zeigt die sanften, nebelweißen Umrisse einer Blume, vielleicht die Blüte einer Schneerose; sie umschließt eine rötlichgraue Sonne, einen weißgrauen storchähnlichen Vogel und ein goldgelbes Farbfeld, einen Lichtsee, eine Andeutung von Wärme. Auf dem Bild zum Zyklus „ge(h)dichte“ scheint eine Frauengestalt mit einem vom Himmel zur Erde strömenden Lichtfluss zu tanzen.
Viele Gedichte kreisen um das Universum „Frau“, den weiblichen Körper, die weiblichen Aspekte des Lebens. Viele Wortkreationen des Zyklus „närrin“ spielen mit den Wortoberflächen und versehen sie mit weiblichen Spuren: „mondin“ (S. 41), „kreuzspinnerin“ (S. 46), „närrin“ (S. 47). Das Gedicht „spieglin“ (S. 26) benennt und personifiziert magische Tätigkeiten, sie sind allesamt weiblich: „morgenseidenspinnerin/ tonmeisterin / klangmalerin / farbkomponistin / tautaucherin / lufttänzerin / spiegelzauberin …“ Die Schwingungen des eigenen (weiblichen) Körpers wahrnehmend und benennend, dehnt das lyrische Ich im Weiteren seine Wahrnehmungen auf das ganze Sein aus und definiert (umgrenzt) es mit „wort.gefühlen“ (S. 25).
Die Gedichte verzichten zum größten Teil auf narrative Strukturen, selbst auf minimale narrative Sequenzen. Sehr oft ist es ein Einfall, ein Wort, das weiterentwickelt wird und sich in raumähnliche oder zeitähnliche Dimensionen hinein entfaltet (S. 61: „krähen ziehen / schreiend ihre / kreise / in den ein.fall / der nacht / rütteln mich wach / in den übergang / des lichts“). Sarclettis Gedichte erzählen nicht, sie sind eher Reflexionen, sprachliche Meditationen, freifließende Assoziationen. Der Zyklus „ge(h)dichte“ enthält viele Impressionen aus der Natur (auch aus Irland, aus Rom), so manche Meditation über den Herbst und dessen Spiegelungen im Inneren. Indirekte Artikulationen von Wahrnehmungen, Wiederholungen und Variationen zeigen: äußere und innere Jahreszeiten, die Welt als Wahrnehmung – alles existiert nur in der Sprache. Sprechend er-„dichtet“ sich das lyrische Ich seine Welt: (S. 55) „herbst / zeit / lose / zeit / herbst / lose / zeit / loser / herbst …“.
Viele Gedichte des Zyklus „im krebsgang“ sprechen von Neubeginn, von Sehnsüchten, von erotischen Erwartungen. Das titelgebende Gedicht (S. 80) nennt das „ver.knotete sehnen im herz“. Sprachlich aufhorchen lassen jene Gedichte, die mit den semantischen Differenzen von beinah gleichen Wortkonstellationen, mit den Enjambements und mit den Punkten innerhalb der Wörter spielen (S. 90, 110). Über den Zeilensprung und den wortinternen Punkt hinweg können Wörter in mehrere Richtungen (vorwärts, rückwärts) verbunden und gelesen werden.
Im letzten Zyklus „die königin überdauert den winter“ finden sich zeitpolitische Themen (S. 109 „tschernoshima“) und zärtliche Verse voller stiller Zuneigung (S. 114: „du / in mein herz / geweht mit / dem südwind …“). Das sehr schöne Gedicht „für sabrina“ (S. 115) vereint Momente eines Liebes- und eines Abschiedsgedichts.
Sprachlich am interessantesten sind die Gedichte dort, wo sie die Regeln der Sprache am entschiedensten aufheben (S. 90: „kopf verkopfter / atem.schnee / sturm.tief / schnee.verweht“), wo die Wörter in ihre Bestandteile zerlegt und neue vielfältige Verknüpfungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, dort wo „Sinn“ mehr klanglich evoziert als deutlich gesetzt wird. Am suggestivsten sind die Gedichte dort, wo auf den Sentenzcharakter zugunsten irritierender Verbindungen verzichtet wird, wo sich die Verlaufsrichtung des Wortsinns verzweigt, wo keine Sinnkonstruktion mehr spürbar wird, sondern eine magische Weitung der Wörter, wo die offenen Dimensionen der Wörter, ihr „Flüstercharakter“, im Mittelpunkt stehen (S. 91). Dort, wo sich der Sinn hinter die Bestandteile der Wörter zurückzieht, wo keine „Botschaften“ mehr vermittelt werden, berühren und verzaubern Sarclettis leise Gedichte.
Sarclettis Sprache ist sehr zurückgenommen, sie vermeidet alles Laute und Grelle. Man findet kaum strophische Strukturen, sehr oft ziehen sich die einzelnen Wörter an den Rand des Gedichts zurück und werden zu Einwortversen. In dieser Vereinzelung gewinnen die Wörter zugleich an Emphase und Stille. Die zögernden und stockenden Verse besitzen die atmosphärische Dichte eines ganzen spurenreichen Lebens.
Eleonore De Felip
Aktualisiert: 2019-07-13
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