Der kraniozervikale Übergang bei Zwergrassen steht auf Grund einer Reihe von Erkrankungen, die unter dem englischen Begriff „craniocervical junction abnormalities“ zusammengefasst werden (Cerda‐Gonzalez et al. 2009, Cerda-Gonzalez und Dewey 2010, Cummings et al. 2018), im Interesse der Forschung. Über die physiologischen Bewegungsabläufe des kraniozervikalen Übergangs ist bislang außer der Studie von Kelleners (2019) nichts bekannt. Kadaverstudien an herausgelösten Wirbelsäulenabschnitten oder Untersuchungen, die an anästhesierten Hunden durchgeführt wurden (Morgan et al. 1986, Penning und Badoux 1987, McLear und Saunders 2000), geben hierzu keinen Einblick. Als weiterführende Studie zu der von Kelleners (2019), in der erstmalig die Bewegungen des kraniozervikalen Übergangs beim Hund während der Lokomotion beschrieben wurden, sollen in dieser Arbeit die physiologischen Bewegungsmuster des Chihuahuas und des Labrador Retrievers während der Fortbewegung untersucht werden. Dies kann als Grundlage zur Analyse von pathologischen Beweglichkeiten hinsichtlich deren Bewegungsmustern und/oder Ausmaß in Bezug auf Erkrankungen des kraniozervikalen Übergangs genutzt werden.
Ziel der Arbeit ist eine dreidimensionale nicht invasive in vivo Bewegungsanalyse des kraniozervikalen Überganges beim klinisch gesunden Chihuahua (n=8) im Vergleich zum klinisch gesunden Labrador Retriever (n=3) in der Gangart Schritt. Der Fokus dieser Arbeit liegt sowohl auf den schrittzyklusabhängigen Bewegungen als auch auf den während der Lokomotion gezeigten aktiven Kopf/Halsbewegungen. Das Scientific Rotoscoping, als markerloses Verfahren der XROMM-Methodik (X-Ray Reconstruction of Moving Morpholoy), wurde zur kinematischen Analyse verwendet. Es setzt sich aus einer Vielzahl an einzelnen Arbeitsschritten zusammen, aus denen folgend die Bewegungsdaten entstehen. Mit Hilfe der computertomographischen Datensätze wird ein Knochenmodell erzeugt und Gelenkpunkte zwischen den einzelnen Knochen eingesetzt, sodass eine Knochenmarionette entsteht. Mit biplanarer Fluoroskopie und mit Hilfe von Highspeed-Kameras werden die Bewegungen der Hunde auf dem Laufband dokumentiert. Eine aus CT Daten generierte Knochenmarionette wird nach mehreren Bearbeitungsschritten der Röntgenvideos an diese angepasst werden. Es entsteht eine dreidimensionale, virtuelle Wirbelsäule, welche die realen Bewegungen der knöchernen Strukturen während der Fortbewegung virtuell widerspiegelt und dreidimensionale Bewegungsmessungen mit hoher Genauigkeit ermöglicht.
In der vorliegenden Arbeit konnte der bei Kelleners (2019) bereits beobachtete Zusammenhang der Rotations- und Translationsbewegungen zum Schrittzyklus bestätigt werden und zusätzlich ein Zusammenhang der lateralen Rotation der Gelenkkette, der sagittalen Rotation bei C3/C2 sowie der axialen Rotation des Atlantoaxialgelenkes beobachtet werden. Bei der biphasischen horizontalen Translation und der monophasischen lateralen Translation besteht ein Zusammenhang zu den Positionsveränderungen während der Lokomotion. Bei der vertikalen Translation, der sagittalen und axialen Rotation der Gelenkkette sowie der sagittalen Rotation von C3/C2, des Atlantookzipitalgelenkes und der axialen Rotation des Atlantoaxialgelenkes ist ein Zusammenhang zur Stemmphase und Vorschwingphase der Vordergliedmaßen erkennbar. Die schrittzyklusabhängigen Bewegungen sind jedoch nur nachvollziehbar, wenn das Muster nicht durch aktive Kopfbewegungen „gestört“ wird. Der Chihuahua und der Labrador Retriever weisen ein gleiches Grundmuster der Bewegungen auf mit individuell unterschiedlichem Amplitudenausmaß sowie geringgradig individuell variierender „Time of Occurrence“ (TOM). Es besteht eine positive Korrelation der gangzyklusabhängigen horizontalen Translation mit der vertikalen Translation sowie der vertikalen Translation mit der sagittalen Rotation der Gelenkkette. Die laterale Rotation der Gelenkkette erfolgt zeitgleich mit der lateralen Translation in gleiche Richtung. Am Ende der lateralen Translation folgt die axiale Rotation in entgegengesetzte Richtung. Der Labrador Retriever zeigt eine deutlich größere Amplitude der axialen Rotation der Gelenkkette im Vergleich zum Chihuahua.
Die gangzyklusassoziierte axiale Rotation der Gelenkkette (C3/C3) und die axiale Rotation des Atlantoaxialgelenkes zeigen eine entgegengesetzte Rotationsrichtung. Die schrittzyklusassoziierte sagittale Rotation von C3/C3 und C3/C2 weisen eine gleiche Rotationsrichtung auf mit entgegengesetzter sagittaler Rotationsrichtung des Kopfes. Der durchschnittliche Bewegungsumfang der horizontalen und vertikalen Translation sowie der axialen, lateralen und sagittalen Rotation der Gelenkkette ist beim Chihuahua kleiner als beim Labrador Retriever (horizontale Translation Ch: 0,5 ± 0,7 cm, L: 0,8 ± 0,9 cm; vertikale Translation Ch: 0,7 ± 0,9 cm, L: 0,9 ± 1,0 cm; axiale Rotation Ch: 2,6 ± 2,9°, L: 3,5 ± 3,9°; laterale Rotation Ch: 2,3 ± 2,7°, L: 2,7 ± 3,6°; sagittale Rotation Ch: 4,0 ± 5,4°, L: 4,8 ± 4,4°). Der Labrador Retriever zeigt im Vergleich zum Chihuahua eine größere Amplitude der axialen und lateralen Rotation der Gelenkkette und ein geringgradig zeitversetztes Minimum/Maximum der sagittalen Rotation nach Aktion der Vordergliedmaße. Die durchschnittliche ROM der lateralen Translation zwischen den Chihuahuas (1,0 ± 1,0 cm) und Labrador Retrievern (1,1 ± 1,9 cm) ist ungefähr gleich, ebenso wie die ROM der sagittalen Rotation bei C3/C2 (Chihuahua 2,1 ± 1,9° und Labrador Retriever 2,0 ± 1,6°). Der durchschnittliche Bewegungsumfang der axialen Rotation des Atlantoaxialgelenkes ist beim Chihuahua (4,2 ± 3,7°) geringgradig größer als beim Labrador Retriever (3,8 ± 3,6°), jedoch die ROM der sagittalen Rotation des Atlantookzipitalgelenkes des Chihuahuas (3,09 ± 3,5°) geringgradig kleiner (Labrador Retriever 3,8 ± 2,9°).
Die sagittale, laterale und axiale Rotation ist sowohl im Atlantoaxialgelenk als auch im Atlantookzipitalgelenk im Rahmen von Kopfbewegungen während der Lokomotion nachweisbar. Die laterale und axiale Rotation treten gekoppelt auf. Während der Fortbewegung werden hauptsächlich Seitwärtsbewegungen sowie Extensions- und Flexionsbewegungen des Kopfes sichtbar. Im Rahmen von aktiven Kopfbewegungen während der Lokomotion steht die sagittale Rotation im Atlantoaxial- und Atlantookzipitalgelenk mit Flexions- sowie Extensionsbewegungen im Zusammenhang. Bei einer aktiven Kopfbewegung nach links kommt es im Atlantoaxialgelenk zu einer lateralen Rotation nach links und zu einer axialen Rotation nach rechts. Im Atlantookzipitalgelenk kommt es bei dieser Kopfbewegung zu einer lateralen und axialen Rotation nach links. Im Atlantoaxialgelenk sind die größten gemessen Ranges of Motion 20° sagittale Rotation, 26° laterale Rotation und 24° axiale Rotation. Im Atlantookzipitalgelenk sind die größten gemessenen Ranges of Motion 16° laterale Rotation, 18° axiale Rotation und 30° sagittale Rotation.
Bei Betrachtung der sagittalen Rotation des Atlas zeigt der Chihuahua insgesamt durchschnittliche absolute Werte zwischen 9,1 ± 6,8° und 18,7 ± 9,9° und der Labrador Retriever zwischen 5,7 ± 4,6° und 14,5 ± 2,6°. Der Chihuahua zeigt somit im Vergleich zum Labrador Retriever durchschnittlich einen geringgradig größeren Wert der sagittalen Rotation des Atlas, welches einer steileren Achse des Atlas entspricht. Jedoch spricht die hohe Standardabweichung der Chihuahuas für eine große Varianz. Im Vergleich der ROM zwischen großen und kleinen Hunden würden bei einer Skalierung der Wirbelkörper ähnliche ROM-Werte zu erwarten sein, nicht jedoch auf Grund der unterschiedlichen Morphologie der Wirbelkörper (Angermann 2006, Schlegel et al. 2010, Spörl 2014). Da es sich in der vorliegenden Studie um zufällige Kopfbewegungen mit unterschiedlichem Bewegungsumfang zwischen den einzelnen Individuen handelt und keine standardisierten Bewegungen provoziert und gemessen werden konnten, kann nicht mit Hilfe der durchschnittlichen Werte der ROM und ROMmax zwischen den Rassen auf eine größere Beweglichkeit innerhalb einer Rotationsrichtung einer Rasse geschlossen werden. Jedoch können die absoluten Messwerte des Atlas und des Schädels im Vergleich zur Referenzposition, der CT-Lagerung, einen Hinweis auf unterschiedliche Winkelungen der Wirbelkörper zwischen beiden Rassen während der Lokomotion geben.
Im Interobserver-Vergleich mit Kelleners (2019) zeigt sich eine hohe Übereinstimmung der erhobenen Daten bei Betrachtung der Translationsbewegungen der Gelenkkette. Ein gleiches Grundmuster der schrittzyklusabhängigen Rotationsbewegungen und aktiven Kopfbewegungen ist ebenfalls zwischen beiden Anwendern erkennbar, jedoch variieren hier Ausmaß, Dauer und Zeitpunkt vor allem von kleineren Bewegungen stärker.
Die Ergebnisse dieser Studie bestätigen den Zusammenhang von Kopf- und Halsbewegungen mit der Fortbewegung und zeigen erstmals ein gleiches Muster dieser Bewegungen bei Labrador Retrievern und Chihuahuas. Die zyklisch auftretenden Positionsveränderungen und die Aktion der Vordergliedmaßen verursachen die Kopf- und Halsbewegungen. Diese können von aktiven Bewegungen im kraniozervikalen Übergang überlagert werden. Die axiale Rotationsbewegung und deren Kopplung mit der lateralen Rotation im Atlantookzipitalgelenk, die Kelleners (2019) erstmalig beschrieben hat, konnte ebenfalls bestätigt werden. Zusätzlich wird erstmals die schrittzyklusabhängige laterale Rotation der Gelenkkette sowie die schrittzyklusabhängige axiale Rotation des Atlantoaxialgelenkes beschrieben. Des Weiteren wurden physiologische Messwerte der Range of Motion während der Lokomotion für die sagittale, laterale und axiale Rotation bei beiden untersuchten Rassen bestimmt.
Die vorliegende Arbeit liefert damit Erkenntnisse zur dreidimensionalen Bewegung des kraniozervikalen Übergangs während der Lokomotion beim Chihuahua und Labrador Retriever und der dort spontan auftretenden aktiven Kopfbewegungen. Sie schafft eine Grundlage für weitere Vergleichsstudien und liefert einen Beitrag zum besseren Verständnis der physiologischen Gegebenheiten und Variationen zwischen den beiden untersuchten Rassen.