Neunzehnhundertfünfzehn

Neunzehnhundertfünfzehn von Beermann,  Erika, Nušić,  Branislav, Scholz,  Bernd E.
Aus dem Vorwort des Heruasgebers Bernd E. Scholz: Am 30. September 1915 fällt Branislav Nušićs einziger Sohn Strahinja im Kampf um Belgrad gegen die Deutschen bei Požarevac. Sein Grab blieb unbekannt. Am 20. Oktober 1915 muss Nušić, seit 1913 Intendant des Nationaltheaters von Skopje (damals zu Serbien gehörig), vor den heranrückenden bulgarischen Truppen mit Teilen der die Zivilbevölkerung begleitenden serbischen Armee mit dem letzten Zug nach Priština (Kosovo) fliehen. Nach einem gefahrvollen, ‘dreiecksartigen’ Leidensweg erreicht der Flüchtlingstreck des Einundfünzigjährigen über Prizren und Djakovica Ende November das wenig Hoffnung verheißende Peć. (Das diplomatische Corps hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf den gefahrloseren Weg über Skadar Richtung albanische Adriaküste begeben, um von dort aus nach Korfu überzusetzen.) Dem großen, in Auflösung befindlichen Treck bleibt von Peć aus als einziger Rettungsweg am 2. Dezember 1915 nur die erneute Flucht durch die winterlichen Schluchten der montenegrinischen Berge über Andrijevica nach Podgorica und Ulcinj. Dem dort einsetzenden Bombenhagel entfliehend, gelingt Nušić schließlich mit dem letzten abgehenden französischen Schiff „Tschad” am 20. Januar 1916 die Rettung ins Exil, bevor die Schergen des militärischen Geheimdienstes Österreichs – des „Evidenzbureaus” – seiner habhaft werden können. Bereits in Ulcinj beginnt er die vierjährige Arbeit an „Neunzehnhundertfünfzehn”, das nach der Rückkehr 1920 nach Belgrad aus dem fast vierjährigen Exil in Frankreich, der Schweiz und Italien auf höchst wundersame Weise 1921 in Wien in einer heute bibliothekarisch nur noch vereinzelt auffindbaren „Edition des Autors” vollständig erscheint. Erneut herausgegeben wird der gesamte Text dann 1931 in zwei Bänden in der 25-bändigen Gesamtausgabe seiner Werke im Verlag seines mutigen und erfolgreichen Belgrader Verlegers Geza Kon (Géza Kohn). Dieser war nach der Einnahme Belgrads durch deutsche, bulgarische und österreichische Truppen Anfang Oktober 1915 in ein Internierungslager am Neusiedlersee (Nežider) verbracht worden. Die in seinem Verlag erschienene Literatur aus dem Englischen, Französischen und Russischen wird 1916 öffentlich in Belgrad verbrannt. — Für die überwältigende Mehrheit aller europäischen Pro-Krieg-Parteien einschließlich seines eigenen Landes sind Nušićs Beobachtungen in „1915” nach dem Ende des 1. Weltkriegs mehr als unzeitgemäß. Auch sie tragen das der europäischen Antikriegsliteratur von ihren erbitterten Gegnern angeheftete ‘Kainsmal’ bis heute. Die Erzählungen seiner Weggefährten auf der Flucht, die er mit ihren eigenen Worten wiedergibt, sind ebensowenig ‘kriegstauglich’ wie die zumeist ausweglosen Schicksale alter wie junger Menschen, reicher und armer, gebildeter und ungebildeter, kurz: „die Tragödien des Volkes”. Trauer und unsägliche Betroffenheit über die unverhältnismäßig hohen serbischen Opfer im 1. Weltkrieg verdecken jede Genugtuung über den schlussendlich errungenen militärischen Sieg. Für deutsche Leser hätte Nušićs „serbisches Golgatha” als Vorausahnung dienen können, wenn sie es denn zur Kenntnis hätten nehmen können. Weist es doch am Beispiel eines kleinen südosteuropäischen Volkes im ersten gesamteuropäischen Krieg des 20. Jahrhunderts prototypisch darauf hin, was den Deutschen später mit Vertreibung, Flucht und massenhaft erzwungenem Sterben im Pandämonium des von ihnen selbst ausgelösten 2. Weltkrieges in vielfach vergrößertem Maßstab widerfahren wird. Für den Schriftsteller Branisalv Nušić ist die Vertreibung ins Exil unlösbar mit der Rettung seines literarischen Werks verbunden. So packt er die für ihn wichtigsten Manuskripte, vor allem das Drama ‘Die verdächtige Person’, auf den Rücken, um damit im Kosovo in einem unüberschaubaren Flüchtlingstreck umher zu irren. In einer gerne übersehenen Notiz zu diesem Stück beschreibt er dieses existentielle Kriegserlebnis: „Doch ab Priština, von wo aus wir zu Fuß in Richtung Prizren weiterziehen mussten, wurde es mir zu beschwerlich, eine solche Last auf dem Rücken zu schleppen. In Priština musste ich daher erneut meine Manuskripte reduzieren, das weniger Wertvolle fortwerfen und nur das mitnehmen, was für mich von besonderer Wichtigkeit war. Während ich so auswählte und all das auf den Boden warf, was ich zu opfern beschlossen hatte, kam die Reihe auch an ‘Die verdächtige Person’. Ich sah das Manuskript durch, kreuz und quer, und – traf schließlich eine Entscheidung. Ich warf es auf den Fußboden, zu der Masse der Manuskripte, die ich opfern wollte, die ich von mir geworfen, die ich auf ewig zum Untergang bestimmt hatte. ‚Fahr dahin, unglückseliges Ding!’ dachte ich, als ich es wegwarf. ‚Ich habe es nicht geschafft, dich auf die Bühne zu bringen, wie sollte ich es da schaffen, dich durch Albanien zu schleppen?’ Und eines Tages brach ich auf, auf dem Rücken ein kleines Paket meiner wertvollsten Manuskripte, während dort in Priština, in dem albanischen Haus, in dem ich gewohnt hatte, meine übrigen Manuskripte zurückblieben, zum Tode verurteilt. Aber in Prizren konnte man nicht bleiben, und bei der Abreise sah ich ein, wie groß die Last noch immer war, die ich bei mir trug, und beschloss, auch diesen Teil meiner Manuskripte zurückzulassen. Doch ich ließ sie nicht verwaist zurück wie jene dort in Priština, auf den Boden geworfen und zum Untergang verurteilt, sondern ich vertraute sie einer Prizrener Serbin an, die sie sorgsam auf dem Dachboden versteckte, unter dem Fußboden. Wir verließen die Heimat und verbrachten drei lange Jahre in der Fremde, und Ende 1918 kehrte ich, gleich nach der Armee, nach Skopje zurück. Wenige Tage später erfuhr ich die traurige Nachricht, dass die Bulgaren in Prizren bei der Durchsuchung der serbischen Häuser nach Waffen jene wertvollen und ausgewählten Manuskripte von mir gefunden hatten, die unter dem Fußboden unter dem Dach versteckt gewesen waren, und sie verbrannt hatten. Während meiner Zeit als Flüchtling war indessen mein Vater gestorben, der in Priština zurückgeblieben war, und sobald das möglich war, fuhr meine Frau nach Priština, um sein Grab zu suchen. Als sie durch die Straßen von Priština ging, traf sie den Albaner, in dessen Haus wir damals Zuflucht gesucht hatten, und der begrüßte sie: ‚Aber gnädige Frau, kommen Sie doch bei mir vorbei. Als Sie von hier weggegangen sind, haben Sie irgendwelche Papiere weggeworfen, und ich habe sie aufgesammelt und aufbewahrt!’ Meine Frau besuchte ihn, nahm das Drama mit und brachte es mir nach Skopje – ‚Die verdächtige Person’.“ – [Aus dem Serbischen von Erika Beermann, nach: Dela Branislava Nušića u 10 knjiga. Beograd 1978, Bd. 4, S. 159 f.] Wir sehen, Nušić schreibt keine im Nachhinein ‘objektiv’ rekonstruierte militärgeschichtliche Erörterung der Rolle Serbiens im 1. Weltkrieg. Er ist aktiv betroffener, Buchstabe für Buchstabe mitleidender Berichterstatter, sein Auge als Erzähler befindet sich im Zentrum des Kriegs-Taifuns, der das Land erfasst hat. Sein wichtigstes erzählerisches Mittel ist daher die ‘oral history’. Die von ihm meisterhaft beherrschte Kunst, die Auswirkungen eines die Zivilbevölkerung immer bedrohlicher erfassenden, immer totaler werdenden modernen Krieges in der Rede einzelner Betroffener immer näher an den Leser heranzuholen, sucht in der europäischen Erinnerungsliteratur unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg ihresgleichen. Deshalb erfordern die 17 von 33 aus dem Gesamtwerk 1978 vom Belgrader Verlag Prosveta ausgewählten Erzählberichte auch weniger den historisch oder geographisch vorgebildeten Leser, sondern eher einen Leser mit Empathie für „Die Stimmen der Völker”, dem bereits ein Johann Gottfried Herder in seinen „Briefen zu Beförderung der Humanität” (1793-1797) „Abscheu gegen den Krieg”, als „Erste Gesinnung” nahegelegt hatte (119. Brief).
Aktualisiert: 2020-08-15
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Es war einmal ein Zarenreich …

Es war einmal ein Zarenreich … von Beermann,  Erika, Scholz,  Bernd E., Simon,  Andrea, Wengerow,  Alexej A., Wengerow,  Sergej A.
Aleksej Wengerow am 01.07.2016 in einem Interview von "Radio svobody": Angelegt war das Projekt – und wie sich zeigt, wird es dergestalt auch realisiert – ausschließlich auf Aufklärung, ohne Anspruch auf klassische wissenschaftliche Bearbeitung. Bedingt durch eine ganze Reihe von Umständen, die noch im 20. Jahrhundert liegen, in der russischen Geschichte, und am Anfang dieses Jahrhunderts, ist das Kulturempfinden für vergangene Zeiten, so scheint uns, stark im Untergehen begriffen. Um diesem Trend [...] entgegen zu wirken, haben wir dieses Aufklärungsprojekt ersonnen und versuchen es umzusetzen. Was bedeutet das? Dass dies keine Buchkunde ist, nicht Geschichte und nicht Literaturwissenschaft und natürlich ohne jeglichen Anspruch auf bibliographische Forschung. All diese Dinge sollten sich nach unserem Plan als Begleitfragmente der Grundlinie dieses Aufklärungswerks ergeben, denn in all diesen Bänden ist das BUCH, groß geschrieben, als dasjenige Instrument aufzufassen, das eine Reihe historischer Ereignisse erhellt, die sich logischerweise in chronologischer Reihenfolge in Russland abgespielt haben; es sollte vor allem ein Gegenstand der Kulturwissenschaft sein, denn es ist ein Denkmal der Geschichte. Wenn man etwa bedenkt, dass ein Buch in einen Einband seiner Zeit gebunden ist, so konnte die erste Ausgabe von »Ruslan und Ludmila« der Autor Alexander Sergejewitsch Puschkin in Händen halten, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mag das Buch mit einem Autograph Iossif Brodskis diesem gehört haben, und das war zweifellos auch der Fall. Und so weiter. Und dann beginnt den Büchern der Geruch der Zeit anzuhaften. Bücher sind nicht einfach bloß gedruckte Materialien, meinen wir, da in der Diskussion über das Buch der Zukunft heutzutage der Standpunkt immer mehr dominiert, dass sich das Buch überlebt habe. Ja, in Bezug auf die reine Informationsvermittlungmag das schon so sein.Obgleich selbst das lediglich eine von mehrerenHypothesen ist. Doch in kulturwissenschaftlicher Hinsicht ist die Herstellung einer physischen Verbindung der Zeiten und die Stärkung der von den Nachkommen nach den Vorfahren ausgestrecktenHand durch das Buch eine unbestreitbare Tatsache, und man wird mich schwerlich eines Besseren belehren können. So empfinde ich es an mir selbst, wenn es sich um Bücher meiner unmittelbaren Vorfahren handelt, die in diesem Land gelebt haben. Darum ist dies ein Projekt der Aufklärung oder der kulturellen Aufklärung, als dessen Hauptgegenstand, als das Subjekt, durch das die Geschichte erhellt wird, das BUCH gewählt wurde. Was die Frage angeht, nach welchem Prinzip die Bücher ausgewählt wurden, so ist in den ersten drei Bänden [der Bibliochronik] das oberste Prinzip – das Fehlen eines Prinzips. Das waren Bücher, die den Herausgebern gefallen haben. Das Einzige, was ihre Platzierung in dem jeweiligen Band grundsätzlich auszeichnet, ist ihre chronologische Anordung. Man muss sich darüber klar sein, dass es sich um eine gewaltige Masse an Büchern handelt, »es sind ihrer Legionen«, sie sind zahllos, und wir treffen lediglich eine repräsentative Auswahl, in dem Glauben, dass eben diese, wie die Statistiken zu sagen pflegen, ein ausreichend klares Bild ergibt. Welches Thema man auch nimmt, über das wir in diesem Stil schreiben, das heißt, dass wir uns in jedem Band neben der Beschreibung der Bücher umsolche Angaben bemühenwie Urheberschaft, Verlag, Schicksal des Verlegers, zuweilen noch erweitert um Autographe, Besitzervermerke und Ähnliches, uns ist sehr wohl bewusst, dass die Zahl dieser Bücher noch um ein Vielfaches größer sein mag. Doch nicht Vollständigkeit ist unsere Aufgabe. Eine derartige Aufgabe haben wir uns nicht gestellt. Wir haben uns eine aufklärerische Aufgabe gestellt, im Sinne des repräsentativen Charakters, damit die Menschen erkennen, was sich am Geschehen im Land verändert hat, welche Kollisionen das Erscheinen des einen oder anderen Buches begleitet haben und wie sich das Schicksal seiner Herausgeber vor dem Hintergrund der allgemeinen Geschichtedes Landes gestaltete.
Aktualisiert: 2021-01-03
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Ich war in Berlin

Ich war in Berlin von Beermann,  Erika, Schaiber-Sokolski,  Michail, Scholz,  Bernd E.
1927 zieht der Vater des damals vierjährigen Michail Schaiber als Angestellter der sowjetischen Handelsvertretung von Moskau nach Berlin, wo die Familie bis Ende 1933 lebt. Der Junge wächst zweisprachig in der deutschen Hauptstadt heran und erlebt die politischen Veränderungen im Land aus der doppelten Perspektive des Einheimischen und des Ausländers. Hier entdeckt er seine Leidenschaft für das Schachspiel und den Fußball; hier macht er dank seiner eigenen Beziehungen zu den »Kindern der Hinterhöfe« und dem gesellschaftlichen Umfeld seines Vaters Bekanntschaft mit Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft, politischer und menschlicher Gesinnung und Zukunft; hier hat er Schlüssel­erlebnisse, die ihn sein Leben lang darüber nachdenken lassen, auf wie dünnem Eis sich Humanität und geistige Prinzipien in der heutigen Welt bewegen. Sechzig Jahre später erinnert sich Michail Schaiber an diese Zeit: Seine Kindheit in Berlin.
Aktualisiert: 2020-08-15
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Verminte Kultur

Verminte Kultur von Beermann,  Erika, Kosik,  Viktor I., Scholz,  Bernd E.
Die vorliegende Arbeit ist dem Nationalismus bzw. den nationalen Bewegungen in der Kultur der multinationalen Gegenden auf dem Balkan gewidmet, vor allem in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien, das die jüngste Geschichte mit Blut gefärbt hat. Eben der Krieg durch die Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden, verschärft durch die Kultur der verschiedenen Länder, eine in blutigen Auseinandersetzungen »identitär« verminte Kultur, durchzieht wie ein roter Faden den Text. In dem Buch wird eine Reihe von Sujets präsentiert, die es ermöglichen, sich eine Vorstellung von einem so furchtbaren Phänomen zu machen wie einer durch Krieg, Propaganda und Opfer verminten Kultur, wo es Raum gibt für Witz, Kino, Theater, Denkmäler und Bildung und andererseits für das nationale Gedächtnis, das das Eigene annimmt und Fremdes ablehnt. Nicht verworfen wurden für diese Studie auch solche Sujets, in denen das Menschliche über den Nationalismus die Oberhand gewinnt , wo das Thema Verzeihung in Nachbarschaft lebt mit dem Thema Mythos.
Aktualisiert: 2020-08-13
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Ars erotica in Stalinabad

Ars erotica in Stalinabad von Schaiber-Sokolski,  Michail, Scholz,  Bernd E.
Bei Durchsicht der nach dem 2. Weltkrieg über Moskau nach Stalinabad verbrachten Herzoglichen Bibliothek von Meiningen entdeckt der Autor gemeinsam mit der Bibliothekarin ein Erotikon des 18. Jahrhunderts. — Stalinabad? Mit dieser für deutsche Ohren dissonant wie durch falsche Lautassoziation wohlklingenden Wortbildung aus »Stalin« und »abad« (eigtl. Persisch für »bewohnt, kultiviert«) wurde das altehrwürdige Siedlungszentrum der Tadschiken, die Hauptstadt der Sowjetrepublik Tadschikistan »Duschanbe«, am 16. Oktober 1929 per Dekret in »Stalinabad« umbenannt. Acht Jahre nach dem Tode ihres ›Namenspatrons‹, Iosif Wissarionowitsch Stalin (1953), erhält sie wieder ihren alten Namen »Duschanbe« zurück. — In einem »Dossier« der Moskauer »Obschtschaja gaseta« [Allgemeine Zeitung] von 2003 heißt es weiterführend: »Bis 1920 gehörte das Territorium des heutigen Tadschikistan zum Emirat Buchara, einem Teil des zaristischen Russland. 1924 entstand es als autonomes Gebiet im Bereich des benachbarten Usbekistan. Erst 1929 erhielten die Tadschiken zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen staatlichen Status und wurden zu Bürgern einer souveränen Republik innerhalb der UdSSR. Etwa eine Million Usbeken befanden sich auf tadschikischem Territorium und fast zwei Millionen Tadschiken in Usbekistan. Samarkand, Buchara und Ferghana, einst nicht nur kulturelle Zentren der turk­sprachigen Usbeken, sondern auch der persischsprachigen Tadschiken, verblieben auf dem Territorium von Usbekistan. Das nördliche Chodschent, in sowjetischer Zeit Leninabad, hauptsächlich von Usbeken bewohnt, bestand lange Zeit nach 1937, als die erste tadschikische Regierung erschossen wurde, hauptsächlich aus den Süd-Kulobzen und stellte die führende Elite Tadschi­kistans. Anfang der 1980er Jahre verschärfte sich der Kampf um die Regierungsgewalt und die Chodschenzen mussten die Vertreter aus Kulob und dem Pamir an der Regierung beteiligen. Mit Beginn der 1990er Jahre kam es zwischen den prokommunistischen Regierungsparteien und der anwachsenden Opposition zum Zerwürfnis. Die demokratische Opposition wuchs schnell zu einer islamischen Bewegung heran. Es entstand die islamische Partei ›Wiedergeburt‹. Als im Sommer 1992 die Opposition den Präsidenten Rahmon Nabijew verjagte, zog die vom Zerfall bedrohte Nomenklatura die Kulobzen auf ihre Seite, indem sie sie bewaffnete und ihr Regierungsposten versprach. Das war der Anfang des Bürgerkriegs in Tadschikistan. Im Herbst1992 wählte die Session des Obersten Sowjets Emomali Rahmonow zum Oberhaupt Tadschikistans, den Direktor einer Sowchose aus dem Kulobsker Bezirk.« [E. Rahmonow ist dann ab 1994 Staatspräsident Tadschikistans bis heute (31.12.2014). Die deutsche Schreibung der Namen erfolgt nach der in der deutschen Wikipedia üblichen Weise, die allerdings dort nicht sehr konsequent gehandhabt wird.] — Herzogliche Bibliothek von Meiningen? Auf der Webseite ihres heutigen Nachfolgers, der »Stadt- und Kreisbibliothek Anna Seghers«, erfahren wir heute (31.12.2014), dass der Bestand der »wissenschaftlichen Abteilung« 1945 unter die »Enteignungsklausel« fiel und im Februar 1946 in die Sowjetunion abtransportiert wurde. »Seitdem gilt er als verschollen.« — Hier darf man durchaus begründet anderer Meinung sein. Denn dass der Bestand nur für den als »verschollen« gelten konnte, der ihm zugegangene Informationen über den Verbleib nicht zur Kenntnis nahm, weil er es nicht wollte oder nicht durfte, erhellen vor allem zwei Zitate aus diesem Buch, die ich hier anführe, weil man sie leicht überlesen kann: »Einige Bücher, die das Judentum betrafen oder einzelne Juden, brachte ich in den siebziger Jahren nach Dresden zu meinem Freund Helmut Eschwege*), dem großen Historiker des deutschen Judentums, und er setzte übrigens die Verwaltung der Stadt Meiningen über den Fundort der berühmten Sammlung in Kenntnis, ohne dass jedoch, soweit mir bekannt ist, von dort irgendeine Reaktion erfolgt wäre.« Beim Verfassen seiner über tausendseitigen Lebenserinnerungen »Getreues Gedächtnis« in Moskau Anfang der 1990er Jahre taucht auch die Meininger Bibliothek in Stalinabad im Gedächtnis von Michail Schaiber wieder auf. Sicher nicht ohne Grund, denn in dieser Zeit erlebte die ehemalige Sowjetrepublik Tadschikistan einen Bürgerkrieg von »ungeheuerlichem Ausmaß«, ein russisches Trauma, das bis heute nachwirkt – in westlichen Publikationen so gut wie unbeachtet. Umso erstaunlicher mutet daher die vom Autor beschriebene eigene Reaktion und die seiner Freunde nach der gewaltsame Exilierung an: »Nach ihrer Übersiedlung nach Moskau erklärten sie alle (...) Duschanbe sei Vergangenheit, sie wollten nicht mehr daran denken, und es lohne sich auch nicht, es sei eine ein für alle Mal verschwundene Vision, und Russen müssten in Russland leben. Eine so völlige Unterdrückung natürlicher Nostalgie lässt sich, so scheint mir, nur auf eine Weise erklären: mit dem verborgenen, unbewussten, intuitiven Gefühl, an einem gigantischen, universal-historischen Prozess teilzuhaben, einem Gefühl, das nicht nur tröstete und mit dem Schicksal versöhnte, sondern in gewissem Sinne auch die Seele erhob, die eigenen Lebensveränderungen mit den unumstößlichen, unerforschlichen Gesetzen der Welt motivierte, und auch einfach schmeichelte …« Wenig schmeichelhaft ist dann für Deutschland, das 1989/90 auch am »universal-historischen« Prozess» teilgenommen hatte – und das mit glücklichem Ausgang –, die Reaktion auf seinen Leserbrief an die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, in dem er im September 1994 auf die Meininger Bücher in Duschanbe hinweist. Es gab keine, und es gibt keine – bis heute. Auch die später durchaus erfolgreichen Restitutionsbemühungen nach dem Krieg von der SMAD (Sowjetische Militäradministration in Deutschland) beschlagnahmter Kunst durch Regina von Habsburg (Regina Prinzessin von Sachsen-Meiningen, 1925-2010) berühren die Meininger Bestände in Duschanbe nicht. Führt zu ihnen jetzt vielleicht das ›Meininger Erotikon‹? Das reich illustrierte Werk der Aufklärung wird 1949 in Stalinabad für den neugierigen und sprachkundigen 26 Jahre alten Leser, Michail Schaiber, zur Quelle vielfältiger praktischer Anwendungen ... War es vielleicht das be­kannte Buch des Marquis d’Argens »Thérèse philosophe. Eine erotische Beichte« (1748), des Kammerherrn Friedrichs II. – auch ›der Große‹ genannt, oder gar John Clelands »Fanny Hill. Memoirs of a Woman of Pleasure« (London 1749), die ihm zu dieser höchst unsowjetischen ›éducation sentimentale‹ verhalfen? Wir wissen es nicht, denn die Herzogliche Bibliothek ist bis heute bis auf einige wenige Exemplare nie wieder aufgetaucht. Und auch die von Gabriela von Habsburg 2013 in der Zeitschrift »Cicero« (18. Oktober) gelegte Spur sollte bisher nicht weiterführen. Doch neben zahlreichen Amouren ›fugitives‹ findet sich die ergreifende und unerfüllt-unerfüllbare spi­ri­tuelle Liebesgeschichte des heranreifenden russisch-jüdischen Gelehrten zu einer sich aus den Fesseln muslimischer Traditionen befreienden ›orientali­schen‹ Dozentin der Anglistik. In den Suchmaschinen des Internets finden sich ihre Aktivitäten als Frauenrechtlerin in Duschanbe (seit 1989) und als Sprachwissenschaftlerin unter der englischen Schreibung ihres Namens – Malokhat Badriddinovna Shakhobova, aber auch unter der kyrillischen Schreibweise. Sie starb am 30. September 2003 in Duschanbe. In einem bisher unveröffentlichten privaten Nachruf heißt es: »Beginning in 1954, when she startetd to build up the chair of English language of sciences of Tajikistan, she has sacrified her life and all her energy to teaching English as a foreign language in Tajikistan. Until the very end of her professional life in March 2003, she was busy writing textbooks, dictionaries and other teaching and learning materials for all levels of students, including one loveley children’s book. Developing the ESU [The European Students’ Union] in Tajikistan and spreading English language throughout her country was the explicit aim of her life. She will be remembered as a prominent person not because of her position but because of her energy and brightness and her honest und straight forward personality.« Heute ist man weniger versucht, von einem »universal-hi­storischen Prozess« zu sprechen, als von einer universal-historischen Utopie, die immer noch auf ihre Erfüllung wartet und daher hier von Erika Beermann aus Michail Schaiber-Sokolskis unveröffentlichten russischen Erinnerungen »Getreues Gedächtnis« fili­g­ran übersetzt wurde. POSTSCRIPTUM Was nicht in diesem Buch steht, aber dennoch gerade für Deutsche nützlich zu wissen ist. Tadschikistan ist das Land, das durch seine Uranproduktion in und um Tschkalowsk nach 1945 eng mit Wismut in der sowjetisch-besetzten Zone verknüpft war. Der in jeder Hinsicht mit allergrößtem Aufwand betriebene Uran-Abbau an beiden Orten und ihren angrenzenden Regionen führte Anfang der 1949er Jahre zur ersten sowjetischen Atombombe. Während Wismut mit einem Einsatz von mehr als 6 Milliarden DM heute weitgehend als ›rekultiviert‹ gilt, wozu es einen vorbildlichen Artikel in der deutschen Wikipedia gibt, lässt sich dies von den Abbaustätten in Tadschikistan, die nach einem Artikel in der »Izvestija« vom 14.04. 2009 mit chinesischer Hilfe auf geheimnisvoll-dunkle Weise sogar wieder in Betrieb genommen werden sollten, wahrlich nicht behaupten. Nicht nur, dass hier immer noch die alte so­wjetische Geheimniskrämerei überwiegt – jetzt ta­­dschi­kisch gewandet, die ökologischen Folgen sind mittlerweile derart evident, dass es auch den Nachbarstaaten angst und bange wird. 53 plus 12 Millionen Tonnen unversorgt-strahlende »Uranabfälle«, mit einer von der Tadschikischen Akademie der Wissenschaften festgestellten Radioaktivität an den beiden wichtigsten Abgängelagern von 240-285 Terra-Bq, hat die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) der Vereinten Nationen ›besichtigt‹. — Überdies hat das einst größte Aluminiumwerk der UdSSR – heute TALCO AG – in Tursunsoda (engl. Tursunzoda; russ. Tursunzade) ebenfalls seine unver­meid­lichen Spuren hinterlassen. Die russische Wiki- pedia konstatiert dort als einzig Berichtenswertes ein von den USA unterhaltenes Ausbildungszentrum für die tadschikische Armee. — Parallel zu dieser tadschikischen Umweltkatastro-phe – wie an vielen anderen Orten der UdSSR (Tschel­jabinsk-40) ­– vollzog sich hier mit dem Ende derselben nach 1991 ein unkontrollierter Zusam­menbruch der Industrie und eine ebenso un­­­kont­rol- ­lierte Vertreibung des russischsprachigen Bevöl­kerungsanteils (einst ca. 440.000, heute ca. 40.000). Manche russischen Internetseiten bezeichnen dieses bis heute nachwir­kende Trauma der zwangsweisen Exilierung im eigenen Land als »Genozid«. Das missglückte Experiment eines ›Zusammenwachsens der Völker der So­­­wjet­union‹ zu einer ›Vielfalt in der Einheit‹ mündete in radikale Re-Islamisierung, Re-Russifizierung und Re-Nationalisierung der jeweiligen Völker. Dabei mag es als eine besondere Ironie der Geschichte gelten, dass man heute – Ende 2014 – von ca. 1 Million ta­dschikischen »Wander- und Gastarbei­tern« in der Russischen Föderation spricht. —
Aktualisiert: 2020-08-15
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Das Vaterunser in zweihundert Sprachen

Das Vaterunser in zweihundert Sprachen von Adler,  Gerhard, Scholz,  Bernd E.
Aus über zweitausend durchgesehenen Übertragungen des »Vaterunsers« hat der Herausgeber hier stellvertretend zweihundert zusammengestellt und eine umfangreiche Einführung geschrieben, die jeden an Religions- und Glaubensfragen unserer Tage Interessierten zu erreichen vermag. »Die Botschaft Jesu an seine Jünger erfolgte in aramäischer Sprache. Uns sind diese Worte in einem 2000 Jahre alten Griechisch überliefert. Was bedeutet das für das heutige Christentum? Oder was bedeutet es, dass das Evangelium den Menschen „aus allen Stämmen und Sprachen, aus allen Nationen und Völkern“ (Offenbarung 5, 9) gilt, wenn auf dieser Erde an die siebentausendachthundert Sprachen gesprochen werden? «
Aktualisiert: 2021-07-01
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Russlands europäische Sehnsucht II

Russlands europäische Sehnsucht II von Schaiber-Sokolski,  Michail, Scholz,  Bernd E.
Achtundzwanzig einstündige Radioessays versammelt dieser Band. Von der frühesten Zeit Russlands bis 2001 erstreckt sich ihr zeitlicher Rahmen. Überlegungen zur Geschichte Russlands, zu seiner Literatur, seiner Philosophie. Entstanden sind sie in Moskau und Marburg. In Moskau vor allem in der »Staatlichen Bibliothek für Ausländische Literatur« und der »Staatlichen Russischen Bibliothek« (vormals Lenin-Bibliothek). In Marburg an den Instituten für Slawistik und Osteuropäische Geschichte, die 2004/05 vom Land Hessen geschlossen wurden. Ihr Verfasser, ein 1923 in Moskau geborener, »universalistischer« russischer Jude, schrieb sie in deutscher Sprache, die er genauso wie seine Muttersprache Russisch fließend beherrschte. In der Sowjetunion sicherte ihm dies seine Existenz wie seine Unabhängigkeit – der »freie« Übersetzer aus dem Russischen ins Deutsche war ein gesuchter Mitarbeiter der Verlage. Dabei gelang gleichsam nebenher auch Erstaunliches: Lyrikübersetzungen russischer Dichtung ab Alexander Puschkin, von deren Qualität sich die Hörer des SWR II (Abteilung Literatur, Gerhard Adler) in 16 »Lyrischen Profilen« (halbstündigen Sendungen) in den 1990-er Jahren überzeugen konnten. Sie erschienen 2003 in Marburg in Buchform als »Russlands Europäische Sehnsucht I« – gewissermaßen als Ehrengabe zum 80. Geburtstag. Die jetzige Herausgabe der »Stundenessays« erschließt endlich auch diesen Teil seines geistigen Erbes in Form eines »Kompendiums«, dessen gesamtes Spektrum in der Schrift »Die tausendjährige Spaltung. Russland. Geschichte, Geist, Gefahren. 15 streitbare Essays« (Marburg 1997) bibliographisch dokumentiert ist, hier vor allem die Schriften im »Samisdat«, aus dem »Darknet« der Sowjetunion. Und wer wollte heute, Anfang Februar 2019, die Aktualität seiner Fragestellung von 1984 – »Der Geist angesichts der Weltkatastrophe» (russisch) – leugnen, wo es doch 1974/1975 bei ihm noch optimistisch gelautet hatte – »Der Geist als Erbe und Mission«? Wie sich 1997 bei der Herausgabe der »Tausendjährigen Spaltung« in erschreckender Weise herausstellen sollte, hatte man in Deutschland nicht gerade auf einen überlebenden jüdischen Zeugen aus der einstigen Sowjetunion gewartet, der überdies noch die mehr als wohlbegründete Meinung vertrat, der mit den KSZE-Verhandlungen 1973, 1974 und 1975 eingeleitete Prozess der Auflösung der West-Ost-Spaltung sei kein Sieg der Politökonomie des Westens gewesen, sondern von der ›Intelligenzija‹ der Völker des Warschauer Paktes unter allergrößten, zumeist auch persönlichen Opfern errungen worden. Hiervon zeugt insbesonders die Geschichte der Moskauer Helsinki-Gruppe, gegen deren Mitglieder der sowjetische Geheimdienst bis zum Beginn der Ära Michail Gorbatschows zusammengerechnet an die 60 Jahre Lagerhaft und 40 Jahre Verbannung erwirkte, ganz zu schweigen von Einweisung in psychiatrische Anstalten, Entzug der Staatsbürgerschaft (Expatriierung) und Berufsverbot. Im Nachwort wird daher auch darauf eingegangen, wie sich das Leichentuch eines immer virulent vorhandenen, klandestinen Antisemitismus deutscher postnationalsozialistischer Osteuropaforscher über Autor und Verlag herabsenken sollte. Und nicht nur dieser. Unvoreingenomme Leser und Hörer gab es auch. Für sie haben wir uns der Mühe unterzogen, das auf den Hörer zugeschnittene Wort, das auch komplizierte soziale, politische oder philosophische Sachverhalte verständlich werden lässt, neu durchzusehen, d.h. rund 750 Namen vor allem anhand der heutigen höchstaktuellen und höchstinformativen russischen Suchmaschine Yandex.ru einzeln zu prüfen und zu indizieren. In vieler Hinsicht sind diese in Deutschland weitgehend unbekannten Namen auch ein Zeugnis des geistigen Potentials Russlands. Im Nachhinein lesen sie sich wie das »Who’s who of Perestroika«, das ich 1990 in Marburg verlegt habe (russisch). Dennoch war äußerste Zurückhaltung geboten bei der Hinzufügung aktualisierter biographischer oder anderer Informationen. Es hätte das Ziel dieser Essays, gedankliche Anregung zu sein, unzulässig verfälscht. Oder wie es Marion Gräfin Dönhoff einmal ausgedrückt hat: Der Gedanke sollte über der Fußnote stehen. Alle Zusätze gehen daher auf das Konto des Herausgebers. Die Aktualität dieser Radioessays findet sich in der Brechung genuin russischer Welt- und Geschichtserfahrung im geistigen Spektrum eines russischen Europäers. Damit betreten wir aber auch bereits den stellvertretenden Kampfplatz aktueller gesellschaftlicher Konfrontationen in Russland, der in der für einen heutigen Deutschen weitabgelegenen Diskussion des »Sinn«-Verlaufs der gesamten Geschichte Russlands liegt.
Aktualisiert: 2020-08-13
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Abseits der Balkanroute

Abseits der Balkanroute von Beermann,  Erika, Gjorgjevski,  Branislav, Scholz,  Bernd E.
Abseits... Aus dem Nachwort von Bernd E. Scholz Abseits der Balkanroute, die immer wieder in aller Munde ist, bedeutet, so wie wir es verstehen, hin zu den leisen Stimmen abseits der Lärmpegel der Autobahnen, weit weg also von den oft falschen Propheten – aus Brüs­sel, Berlin oder Paris, weit weg von den durch sie zubetonierten »paneuropäischen« Korridoren, den mautbewehrten Trassen, und noch weiter weg von den Machinationen der EU-Erweiterungskommissare. Wir selbst befinden uns mit der Ausrichtung auf ein geistiges Erzeugnis jenseits der Routen und Korridore. Unser griechischer ›Diadrom‹ beginnt bei Homer, der mazedonische ›Avtopat‹ bei Kyrill und Method, der serbo-kroatische ›Autoput‹, dieser einstige südslawische Weg »der Brüderlichkeit und Einigkeit« beim Freund der Brüder Grimm, dem Serben Vuk Karadžić, dem Heinrich Heine der Vojvodina Branko Radičević, in dessen Lieblingswald, der Fruška Gora, mich eine kleine Tafel als Studenten 1967 daran erinnerte, wo ich herkam: „Hier erschoss die SS im Sommer 1941... « (Wie oft sollte ich solchen Tafeln noch begegnen.) Es geht uns um einen begabten jungen mazedonischen Autor, der sich selbst als »lost generation« versteht, und hier insbesondere um seine Kurzprosa. Im zeitgemäßen ›Facebook-Format‹ – maximal bis zu 3600 Zeichen Text... Und ziemlich lange müssen wir dann lesen, bis uns der Erzähler einen konkreten Hinweis gibt, der es uns erlaubt, die Geschehnisse dem Lebensraum des Autors zuzuordnen. Das Erzählte selber ist lokal unbegrenzt – räumlich wie zeitlich. Mit Kurzprosa begann 1882 schon der junge Anton Tschechow (»Die Kürze ist die Schwester des Talents«, Brief vom 11.April 1889). Bei ihm hieß es noch »Humoreske«, »Kurzgeschichte« – schlecht bezahlt im Feuilleton der Petersburger Tageszeitung »Neue Zeit«, der nichts suspekter war als eben diese neue Zeit. Allgegenwärtig auch hier die politische wie geistliche Zensur, die es mit Humor und der realistischen List der Vernunft zu umgehen galt – jeden Tag von Neuem. Und allgegenwärtig auch hier bereits die Angst vor dem gewaltbereiten Einzeltäter, auch damals bereits Terrorist genannt. Doch kein Terrorist, der von Außen eindringt, sich im Karteisystem des Geheimdienstes erfassen lässt, sondern bei Gjorgjevski ein einfacher und verdienter Bühnenwart im Theater ist es, einer von uns also, der durch seine Tat offen legt, dass ihm die gesellschaftlichen Verhältnisse unerträglich geworden sind. Diese Innensicht aufzudecken, die Triebkräfte darzulegen, die ihn zum mörderischen Handeln drängen, vermag allein die »schöne Literatur«, die »Belletristik«. Der junge mazedonische Erzähler wird uns zum Vorbild in dieser »Schule des Dialogs der Kulturen«, wie der russische Philosoph Vladimir Bibler sie begründet hat, auf dem Weg zu einem »erkenne Dich selbst«, dieser ureigensten Form geistigen europäischen Seins. Gehen wir also mitten hinein mit dem ›Kanu des Wortes‹ in die Wildwasser des Balkans, mag er »westlich« sein oder sonst wohin reichen, meinetwegen bis zu den Eskimos nördlich der Sonne ... Denn bis dorthin reicht mittlerweile der scheinbar stumme Menschenzug, der irgendwo von den Wassern des Euphrats aufgebrochen war, um zu retten, was gerade noch zu retten war, das nackte menschliche Leben. Da ist es schon viel, dass es Einer noch schafft, den Dingen einen Namen zu geben, innnerpsychische (Zerfalls-)Prozesse aus ihrer Sprachlosigkeit zu befreien, vor der vermeintlich befreienden Tat mit wenigen zutreffenden Worten die Szenerien zu erhellen und so vielleicht einen Perspektivwechsel zu ermöglichen, der eigenen Ohnmacht entgegen zu wirken, der sanften Macht des erzählerischen Duktus folgend allgemeinmenschliche, existenzielle Grundsituationen mit den Mitteln erzählerischer Reflexion zu erhellen und somit hartnäckig staatlich und überstaatlich verursachter und bewusst unregulierter Anomie entgegenzuwirken. Wer einen Titel für ein Buch suchen muss, ist nicht zu beneiden. Sucht er doch etwas, das möglichst in einem Wort das gesamte Buch enthält. Die knappst mögliche Mitteilung für Leser und Öffentlichkeit. Ein weithin hörbares Signal also. Gerne hätten wir daher den Originaltitel übernommen, aber »Nördlich der Sonne« war schon vergeben. Und in Deutschland gilt »Titelschutz«. Außerdem bezieht sich bei uns »nördlich der Sonne« auf Gebiete irgendwo am nördlichen Polarkreis. Da der heute (2016) 30-jährige Erzähler dabei in dieser Erzählung selber den Blick auf seine Heimatstadt Skopje richtet, die in ihrem Landeswappen die Strahlen der Sonne birgt, scheidet »nördlich« also aus. Der mazedonische Leser muss sich hier eher mit landesuntypischen deutschen Lehnwörtern wie »Barock, Schund und Kitsch« anfreunden, die ihm der Erzähler kurz und trocken als charakteristische Merkmale wesentlicher Teile des neuen Skopje vorhält. Kaum wird ihm bewusst sein, dass im November 2013 der »nationale Umbau« seiner Hauptstadt von meinungsbildenden Pressemagazinen mit diesen Ausdrücken belegt worden ist – »Schund, Kitsch« (SPIEGEL, 12.11.2013). »All diese Orte, die einmal Glück bedeutet haben, sind heute Friedhöfe von Erinnerungen, bedeckt mit düsteren Gespenstern aus Wellblech, verziert mit Staub und bis zur Unkenntlichkeit verändert. Meine Stadt, früher warst Du Liebe, jetzt bist Du nur noch eine Strafe. [...] Ich hätte nie gedacht, dass Du dich statt mit mir jetzt mit Barock, Kitsch und Schund abgeben würdest.« (Hier S. 48) Und überhaupt: Im Dezember 2013 findet sich der bekannte Altmeister der mazedonischen Literatur, Vlada Urošević, von der umtriebigsten deutschen Literaturkritikerin Elke Schmitter – wieder im SPIEGEL – in diesen »toten Winkel« Europas verbannt (oder vielleicht doch eher aus ihm hervorgeholt?). Das mochte 2013 noch als ungeschickte Metapher durchgehen – heute nennen wir eine solche Betrachtungsweise »postfaktisch«, was nichts anderes heißen soll als »durch die Tatsachen nicht erhärtet« –, geographisch-politisch betrachtet war es also falsch. Und doch vielsagend. Nach der Zerschlagung Jugoslawiens – diejenigen, die es zerschlagen haben, angeblich um es zu befrieden, sprechen heute lieber von »Zerfall«. Und ebenfalls heute, am 24.09.2016, fordert ein »Balkangipfel« in Wien »die völlige Schließung der Balkanroute«. Als ob da irgendwo irgendjemand in einem Maut- oder Zollhäuschen säße, der diese Route einfach nach Lust und Laune auf- und zuschließen könnte. Und hat nicht die Europäische Gemeinschaft genügend investiert, investieren lassen, um diese Route möglichst »barrierefrei« für alle Güter dieser Erde durchgängig zu machen? Von Bergen in Norwegen bis Aleppo in Syrien? Auch an militärischem Einsatz und überquellender Lieferung von kriegerischen Gerätschaften hat es wahrlich nicht gefehlt. Laut einem Beschluss des Deutschen Bundestages im Sommer 2015 wurde das Kosovomandat der Bundeswehr erneuert, das bis dato schon 16 Jahre währte und an die vier Milliarden Euro gekostet haben soll. Der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Dr. Tobias Lindner, vier Jahre älter als Branislav Gjorgjevski, zeigte sich bei Abgabe seiner JA-Stimme verwundert: »Dieser Bundeswehr-Einsatz dauert fast die Hälfte meines Lebens«. Zu vertieften Einsichten könnte ihm vielleicht ein ›Rollentausch‹ mit Branislav Gjorgjevski verhelfen – Lindner als Beobachter der Bundeswehr, wie sie auf dem größten Truppenübungsplatz des Balkans (Krivolak) im östlichen Teil von Zentralmazedonien und zusammen mit anderen NATO-Truppen Krieg übt – mit einem garantierten mazedonischen Grundeinkommen von 150 Euro (monatlich), und Gjorgjevski als Schriftsteller in Berlin mit dem garantierten Grundeinkommen eines Mitglieds des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestags (sechs bis acht tausend Euro monatlich). Die politbürokratischen Schlagworte zu Mazedonien in deutschsprachigen Medien sind leicht zusammengestellt, ganz zu schweigen von soliden landeskundlichen Daten, jedenfalls solange es noch ein Internet für jedermann gibt, in dem sich diese auffinden lassen. Hier eine Auswahl: gefährliche Sackgasse, autoritäre Halbdemokratie; Medien­(un)freiheit in Südosteuropa, Staatskrise, Land in Auflösung, Mafia-Staat, Frontstaat gegen Flüchtlinge, Jugend­revolte, EU- und NATO-Beitritt, Frontex-Einsatz, Balkangipfel, Balkanroute noch dichter machen, Balkanroute nicht dicht machen, lost in Transition, Truppenübungsplatz Krivolak, Rechtsstaatlichkeitsmissionen der Europäischen Union, Eulex, Camp Bondsteel ... ... ... Der russische Dichter Velimir Chlebnikov hat eine solche Sprache, die überdies durchsetzt ist von zahlreichen Abkürzungen, 1920 als »Vogelsprache« bezeichnet. Mazedonien, seit 1991 unabhängig, FYROM (Former Yugoslav Republic of Macedonia, EJRM (Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien), ein Land von der Größe des Bundeslandes Hessen, hat »eine der schwächsten Volkswirtschaften Europas und befindet sich in einem Transformierungsprozess, sowohl wirtschaftlich als auch politisch« (de.wikipedia). Bei Gjorgjevski wird klinisch-konkret wie übertragend aus der Transformation des alten in den neuen ›homo oeconomicus Europeanus‹ etwas Toxisch-Lethales: »Es ist ein schwerer Asbest hier«. Das Sinnbild menschlicher Existenz in postnuklearer Erdenendzeit ist der Stalker in dem gleichnamigen Film des russischen Regisseurs Andrej Tarkovskij (1978/79). Der Stalker ist jemand, der sich seinen Weg durch unbewohnbare, das heißt für die Dauer der Menschheitsgeschichte nicht wiederbelebbare »Zonen« hindurch zu ertasten sucht. Jemand, der »Abseits« des Unbelebbaren vielleicht auch irgendwo und irgendwie »dazwischen« umherirrt, ohne Aussicht wie bei Gjorgjevski auf einen »Silbersee«, dessen seltsame Algen den Tod vom Schreibenden nur fernhalten, solange er am See verweilt, der aber sterben muss, sobald er sich von ihm entfernt. Die selbst geschaffenen »Fegefeuer« der Menschheit sind vielfältig und unabsehbar. Der existenzielle Ausgangspunkt des heute (2016) Dreißigjährigen ist seine nach dem Jugoslawienkrieg seiner Kindheitsjahre (die 1990-er Jahre) mit Nuklearstaub von abgereicherten Uran belastete Heimaterde. Erzählend wehrt er sich dagegen, dass aus seiner Generation eine Generation von Stalkern wird, für die er das Epitaph im Frühjahr 2015 eigentlich schon geschrieben hatte. »Meine Generation, in der zweiten Hälfte der 80-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts (1985-90) geboren. Menschen, geboren vielleicht in der progressivsten Periode, unmittelbar vor dem Zerfall der ehemaligen Föderation. Eine Generation, die im Sozialismus geboren, in der Übergangsphase erzogen wurde und im Kapitalismus funktionieren sollte. Im Unterschied zu den vorhergehenden war meine Generation zu jung, um die Schrecken der gesellschaftlichen Reformierung zu erfassen, doch zugleich vollkommen bereit, sich auf diese ganze technologische Blüte einzulassen. Wir sollten eine Generation sein, die eine neue Welle von Ideen mit sich brachte, völlig im Einklang mit den zeitgenössischen westlichen Werten. Doch stattdessen hat meine Generation ihre Fähigkeiten auf die Bedürfnisse der westlichen Zivilisation abgestimmt. Im Westen und nicht hier, versteht sich. Meine Generation ist heute von Hoffnungslosigkeit und Gleichgültigkeit okkupiert. Meine Generation tut heute alles, außer an einer besseren Zukunft zu bauen. Meine Generation arbeitet heute auf Schiffen, in McDonalds-Filialen, wechselt As-besttafeln aus und legt Fliesen auf jedem Meridian von hier bis Kalifornien. Es gibt auch solche, die an angesehenen höheren Bildungsinstitutionen lehren und verantwortliche Aufgaben in renommierten Einrichtungen wahrnehmen. Hier, in dieser unserer Heimat, lebt meine Generation auf Sparflamme. Sie verbraucht ihre Leben von heute auf morgen. Sie träumt von besseren Tagen, während sie darauf wartet, dass ihr jemand einen Brosamen zuwirft, von dem dieser jemand denkt, dass er ausreichend sei. Sie träumt von einer festen Arbeitsstelle, während sie das Antragsformular für eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis in irgendeinem anderen Land ausfüllt. [...] Als ich in diesen Tagen die besetzten Fakultäten besuchte, sah ich eine Generation oder wenigstens einen soliden Teil einer Generation, die nicht unter den Umständen leben will, die meine Generation zugelassen hat. Ich sah eine Generation, der das Sicheinsetzen für das eigene Land wichtiger ist als Green Cards und Auswanderungsvisa. [...] Mögen diese Menschen nach uns das zurückerobern, was uns nicht zu verteidigen gelungen ist. Mögen sie Wissen und Werte okkupieren, anstatt es zuzulassen, dass sie selbst von Mittelmäßigkeit und Maulheldentum okkupiert werden.« (Aus dem Mazedonischen von Erika Beermann, »Die okkupierte Generation«, gjorgjevski.blogspot.de) 23 Kurzgeschichten abseits der Balkanroute also, doch sie treffen mitten hinein ins Herz Europas.
Aktualisiert: 2020-08-13
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