Zu Füßen die Dunkelheit.
Als Tyron die Hände ausbreitete, konnte er den angenehm kühlen Wind spüren, der ihm durch die Finger strich. Die gewaltigen Blätter der uralten Bäume rauschten, während sie um ihn herum langsam auf und ab wippten. In jenem Moment erschien die Sonne am östlichen Horizont und die noch frischen Sonnenstrahlen tauchten den riesigen Urwald Egurinias in ein schwaches, goldenes Licht. Der Wald erstreckte sich unendlich weit in alle Richtungen und schien kein Ende zu nehmen. Tyron stand auf einem großen, rotgrauen Berg, der weit weg von allen Städten und Dörfern inmitten der Wildnis thronte. Nachdem Vlaworins Schüler Erszak zu ihnen gekommen war, hatten sie sich – auch auf den Rat der Goldenen Ordensmitglieder Horwaag, Yabell und Reivan – auf den Weg tief in den Urwald gemacht. Sie hatten diesen einzelnen Berg, der wie eine Insel zwischen den Bäumen hervorragte, erklommen und nahe seinem Gipfel ihr Lager aufgeschlagen.
Hier warteten sie nun: Tyron, sein bester Freund Dagok, seine Schwester Daria, sein Freund und Lehrer Jaron, die drei Soldaten Fadriin, Prohon und Saath, der Halbdämon Erszak sowie natürlich Nora. Eben als der Alb an sie dachte, erschien sie neben ihm und schlang die Arme um ihn. „Woran denkst du?“, fragte die Menschen-Frau und Tyron seufzte schwer. „Siehst du das?“ Er deutete mit dem Kinn nach Süden. In seinen Augen spiegelte sich die Sonne, die wie jeden Tag den Himmel zu erobern versuchte. „Ich meine die Kälte, die uns jenseits dieses Waldes erwartet. Die schreckliche Kargheit der Ebene Varenors. Der Schatten zu Füßen der letzten Wurzeln dieser unendlich vielen Bäume.“ Nora schmiegte ihren Kopf an Tyrons Brust. „Was sollen wir tun, damit uns die Dunkelheit nicht beherrscht?“, fragte er. „Wir werden sie besiegen“, murmelte Nora zuversichtlich und schloss die Augen. „Thromagon hat sicher bald das gesamte Delviatos aus den Bergen der Adarcen geholt, dann muss die Zahl seiner Totenkrieger langsam ein Ende finden“, meinte Tyron nachdenklich. „An den Grenzen seines Reiches stehen sie dicht gedrängt. Alle anderen armen Wesen Ylthars werden in seinem Heer vor den Toren seiner Festung auf die letzte Schlacht warten. Auch der Orden rüstet sich. Wenn der Krieg erst ausbricht, hat unser Warten hier ein Ende und dann entscheidet sich das Schicksal des Seins. Weißt du, was geschieht, wenn wir den letzten großen Krieg verlieren?“, fragte Tyron. Nora schüttelte zögernd den Kopf. „Wenn Treagona, der letzte Widerstand Irgonas, zerschlagen ist, wird Thromagon seine Macht auch über ganz Urgona ausbreiten. Dann kann er nach den Sternen greifen und das Jenseits mit bloßen Händen zerfetzen. Dann hat er die Rache, die er wollte, und hat alles zerstört.“ Nora löste sich von Tyron und nahm seine Hände. „So wird es nicht kommen, ganz sicher. Wir werden um unsere Welt kämpfen, bis es keinen Weg mehr gibt. Und nun denk nicht mehr an den Krieg, Tyron. Noch ist die Zeit dafür nicht reif.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln, dann ließ sie ihn los und ging zum Lager zurück. Tyron strich über die Griffe seiner beiden Schwerter, die er auf den Rücken geschnallt hatte. Sie alle trugen auf ihrem Marsch möglichst wenig bei sich, denn die erdrückende Hitze über und unter den Baumkronen erwies sich als genügende Last. Doch seine Waffen hatte der Alb nur mehr selten abgelegt. Auf ihrer Reise von Tongeruf, nach der Verabschiedung von Naghan, die sie dort beherbergt hatte, waren sie einigen seltsamen Wesen begegnet: Vögeln, die an Größe die Arrotonen des Ciman-Gebirges übertrafen, kleinen Insekten und Pflanzen, die zu berühren schon tödlich sein konnte, und natürlich Räubern des Waldes, irgonischen Nomaden, Tieren oder auch Pflanzen, die man nicht sah, aber oft hören und erahnen konnte. Egurinia steckte voller Gefahren und Tyron hielt es für klug, gegen sie gewappnet zu sein. Auch Nora hatte er geraten, ihr Messer nicht abzulegen, und er hatte Jaron und die Soldaten gebeten, ihr zu zeigen, wie man damit umging. Weniger Sorgen als um Nora machte sich Tyron um seine Schwester. Zwar war Daria nicht mehr in der Lage, sich in eine Gepardin zu verwandeln, aber sie beherrschte das Bogenschießen noch besser als Tyron, der ja immerhin Vlaworins Macht der Jahrtausende auf seiner Seite hatte.Der Alb fuhr sich mit der Rechten über das Gesicht. Es war lange her, da sie bei den Adarcen in Tasatan gerastet hatten. Wie gern würde er sich wieder einmal waschen, sich rasieren und die Haare schneiden lassen! Tyron seufzte und drehte sich um. Ihr Lager bestand aus einigen gewaltigen Baumblättern, die sie auf Stöcke gestützt hatten, um Schutz vor Regen zu haben. Darunter lagen ihre Umhänge, Rüstungen, Pfeile und Speere, die Saath ununterbrochen schnitzte, sowie einige Waffen, die sie abgelegt hatten. Ein Feuer vertrieb einige der Gestalten, die des Nachts den Berg zu erklimmen versuchten. Auf einigen groben Felsen saßen Tyrons acht Begleiter um die Feuerstelle herum. Saath schnitzte. Prohon, neben dem sich der schweigende Erszak niedergelassen hatte, schaute ihm gelangweilt zu, Fadriin unterhielt sich mit Dagok und Daria, die Arm in Arm saßen, und Nora hatte sich soeben neben Jaron niedergelassen, der mit seinem parierstangenlosen Schwert eine seltsame Bewegung einübte. Von allen Gefährten sah man Jaron die Anstrengung der Reise am ehesten an. Zwar war er nicht viel älter als etwa der starke Saath, doch viele graue Strähnen begannen bereits sein pechschwarzes Haar und seinen neu gewachsenen Bart zu durchziehen. Als Tyron ihn kennengelernt hatte, war dem noch nicht so gewesen. Der Alb fragte sich, ob das an den Sorgen lag, die sich der Treagon dauernd machen musste, oder ob es der Schatten war, der an jedem von ihnen nagte. Schatten. So nannte Jaron Thromagon und dessen Macht, wie alles andere Böse. Immer, wenn Tyron Finsternis statt Schatten sagte, berichtigte ihn das Goldene Ordensmitglied der Geschichte Irgonas, ohne ihm zu erklären, weshalb.
Als Jaron gerade zwei Schritte nach vorn machte und dabei sein Schwert über dem Kopf kreisen ließ, um es dann auf einen nicht existierenden Gegner herabsausen zu lassen, zog Tyron blitzschnell eine seiner Klingen und stoppte die Bewegung Jarons, dessen Waffe auf die seines Schützlings prallte. „Zeig mir, was du übst“, sagte Tyron herausfordernd. „Wie damals in meiner Wohnung in Cistensia?“, lachte der Treagon. „Ja. Meinen Sieg eingeschlossen“, grinste Tyron. Der Kampf gegen Jaron zeigt ihm, dass er sich im Schwertkampf verbessert hatte. Nun war es nicht mehr nur die Macht der Jahrtausende, die ihm die Fähigkeit zum Kämpfen verlieh, sondern seine eigene Erfahrung. Jaron hingegen schien schwächer geworden zu sein. „Was ist mit dir?“, fragte der Alb besorgt. Sein Schützer keuchte: „Der Weg durch Ciman hat mich einiges meiner Kraft gekostet.“ Tyron schmunzelte. „Wohl eher deine Jugend.“ „Halt deine Zunge im Zaum“, brummte Jaron, aber mit einem Lächeln unter seinem Bart, und steckte sein Schwert in die Scheide zurück. Dagok gluckste. „Und Tyron hat doch recht“, meinte er, worauf er einen drohenden Blick von Jaron und einen Hieb von Darias Ellbogen erntete. „Hört auf“, sagte Tyrons Schwester und sie lachten. Einzig auf Erszaks Gesicht war kein Lächeln zu erkennen. Jeden Tag schien er nur darüber nachzudenken, wie die Zeit voranschritt, was Thromagon tun und was noch alles geschehen würde. So vergingen die Tage und jedes Mal, da der Schüler Vlaworins durch seine Gabe mit den Goldenen Ordensmitgliedern sprach, die noch in Cistensia waren, wurden die Gefährten ein Stück betrübter. Yabell riet ihnen zu warten. Immer nur zu warten. Das Heer des Ordens würde noch einige Zeit zur Aufstellung benötigen.Tyron machte sich jeden Tag auf den Weg zum Gipfel des Berges und genoss dort den kühlen Wind und die Aussicht. Er konnte weit über den Wald hinwegsehen, wo sich der riesige, weite blaue Himmel über Irgona erstreckte, als kenne er keine Grenzen. Manchmal erklomm der Alb auch nachts den Gipfel. Dann konnte er ein riesiges Sternenfeld erblicken und ihm wurde schwindelig, da er erkannte, wie groß die Welt war, um die sie alle bald kämpfen würden. Eines Tages regnete es so heftig, dass ihr Lager drohte, hinfort zu schwemmen, als die Wassermassen den Berg hinab rauschten. An seinem Fuß verschwand das Wasser unter den uralten Bäumen, zwischen denen es nur so wimmelte von Tieren, Geräuschen und ungeahnten Mächten. Ein Rätsel bereitete ihnen wie auch ganz Treagona, dem Reich des Zwölften Ordens, Kopfzerbrechen: Was war Thromagons Verderben? Das Wasser, wie es stets vom Himmel fiel, oder das Feuer? Es gab keinen eindeutigen Hinweis darauf, was es nun war, das den Dunklen Tyrannen töten konnte. Für das Feuer sprach: Es war unwahrscheinlich, dass sich Thromagon im Südgebirge verkriechen würde, wo es doch nur allzu oft regnete. Andererseits war es seltsam, dass Thromagon einen Acraa befehligt hatte, der mit den Mächten des Feuers das Alben-Reich erobern sollte und eines späteren Zeitpunkts vielleicht Seite an Seite mit dem Schwarzen Tyrannen in den Krieg gezogen wäre. Vielleicht aber scherte sich Thromagon weder um das eine noch das andere Element? Sein Körper war, wie man wusste, vollkommen bedeckt von Drachenhaut, die sein Fleisch sowohl vor züngelnden Flammen als auch vor fließendem Wasser schützen musste. „Ob Thromagon glaubt, dass ich tot bin?“, fragte Tyron Jaron eines Nachts, als sie alle um das Feuer saßen und sich unterhielten, während die lauten Geräusche des Waldes zu ihnen auf den Berg drangen. „Das letzte Mal sah er dich durch Orgaharcs Augen. Bei Aicton“, dachte Jaron laut nach. „Dann griff er Rygo an, weil Ecwin seinen Vertrag gebrochen hatte.“ „Bist du dir da so sicher?“, fiel unvermittelt Fadriin ein, der ihnen zugehört hatte. „Vielleicht hat Ecwin ja damals nicht getan, was ihr ihm geraten habt, und Thromagon hat Rygo einzig wegen Tyron angegriffen.“ Jaron schüttelte den Kopf. „Es mag sein, dass Tyron ein Grund war, der Thromagon bewog, die Stadt zu erobern. Ich denke trotzdem, er wollte sich vor der Gründung Ylthars das Delviatos-Vorkommen sichern.“ „Und denkt er nun, dass ich in Rygo umgekommen bin?“, fragte Tyron erneut und Jaron zuckte mit den Achseln. „Vermutlich nicht. Dann hätte er deine Leiche sehen wollen. Immerhin hast du seinen Acraa Meonor niedergestreckt und bist ihm danach nur zu oft entwischt.“ Tyron kratzte sich an der Stirn: „Aber es gab keine Leiche, die die Totenkrieger Thromagon hätten zeigen können, also muss er davon ausgehen, dass ich noch am Leben bin.“ „Wenn die Totenkrieger ihm nicht sogar von unserer Flucht berichtet haben“, warf Fadriin ein. Tyron seufzte und hievte sich hoch. „Was meint ihr: Jagt er mich?“ „Ich weiß es nicht“, sagte Jaron, „aber jeder Totenkrieger, dem du begegnest, kennt sicherlich deinen Namen. Du solltest aufpassen, wem du über den Weg läufst. Thromagons Augen suchen bestimmt nach dir.“ Tyron nickte und betrachtete den Mond. Wie viele Feinde werden wir unter seinem Schein wohl haben?