Ergänzung eines bestehenden Erhebungsinstruments zum Umgang von Lehrkräften mit „Fehlvorstellungen“ von Schülern

Ergänzung eines bestehenden Erhebungsinstruments zum Umgang von Lehrkräften mit „Fehlvorstellungen“ von Schülern von Stein,  Melanie
Seit langem sind „alternative Vorstellungen“, „Fehlvorstellungen“ oder „miscon- ceptions“, also Vorstellungen, die nicht mit dem aktuellen wissenschaftlichen Konsens in Einklang stehen, weltweit ein Forschungsgegenstand der Chemie- didaktik. Konstruktivistische Lerntheorien können dabei das Auftreten alternati- ven Vorstellungen bei Schülerinnen und Schülern ebenso erklären, wie die Tatsache, dass das Vorliegen solcher Vorstellungen für das Weiterlernen hinderlich sein kann. Auf der Basis dieses theoretischen Verständnisses wurden in der Vergangenheit eine ganze Reihe von Vorschlägen entwickelt, wie Lehrende konstruktiv mit alternativen Vorstellungen von Lernenden umgehen könnten – allerdings ohne dass sich gezeigt hätte, dass damit die unterrichtlichen Probleme, die alternative Vorstellungen mit sich bringen, merklich zurückgegangen wären. Vor diesem Hintergrund wurde in Kooperation zwischen den Universitäten in Dortmund und Kassel ein Projekt durchgeführt, mit dem erforscht werden soll- te, wie Lehrkräfte mit Fehlvorstellungen von Schülern wirklich umgehen. Um dabei nicht darauf angewiesen zu sein, bei Unterrichtsbesuchen oder -beob- achtungen zufällig auf Fehlvorstellungen von Lernenden zu stoßen, wurde ein Fragebogen entwickelt, der die Reaktion der befragten Lehrkräfte auf in typi- sche Lehrsituationen eingebettete Fehlvorstellungen abfragte. Die im Folgen- den wiedergegebene wissenschaftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien im Fach Chemie von Melanie Stein hatte dabei die Aufgabe, das für diese Erhebung bestehende Instrument um weitere Fragen und somit weitere eingebettete Fehlvorstellungen zu erwei- tern. Dazu widmet sich Frau Stein zu Beginn ihrer Ausführungen den theoretischen Grundlagen der sogenannten „Fehlvorstellungen“ von Schülern. Sie argumen- tiert dabei unter Berücksichtigung aller wesentlichen Aspekte logisch äußerst stringent und führt das verfügbare Forschungswissen zu diesem Bereich sowoh l allgemein theoretisch als auch vor dem Hintergrund der Aufgabe ihrer Arbeit exzellent zusammen. Besonders hervorzuheben sind die überaus ge- glückten Abschnitte, in denen Frau Stein die Wechselwirkungen von Fach- sprache und Fehlvorstellungen sowie von Modellen und Fehlvorstellungen be- denkt. Gerade letzteres führt sie unter Bezugnahme auf Johnstone tiefgründig aus und nimmt im Rahmen der fachlichen Erwägungen im Vorfeld der konkre- ten Erarbeitung von Items im praktischen Teil der Arbeit geglückt darauf Be- zug. Auf äußerst hohem Niveau bewegt sich auch die Erwägung lerntheoreti- scher Begründungen für die Beschäftigung mit Schüler(fehl)vorstellungen. Überaus gelungen ist die Charakterisierung diagnostischer Instrumente wie des „Concept Cartoons“, der Lernbegleitbögen sowie der Concept Maps, wo6 bei besonders hervorgehoben werden muss, dass es Frau Stein auch im Zu- sammenhang mit den Concept Cartoons im Laufe der Arbeit immer wieder vorbildlich gelingt, an die zusammengetragenen theoretischen Überlegungen anzuknüpfen und logisch stringent auf sie aufzubauen. Zu den Ansätzen des Conceptual Change gibt Frau Stein einen exzellenten und gerade hinsichtlich der Frage nach der Ablösung bzw. schrittweisen Veränderung bestehender Schülerkonzepte hochgradig reflektierten Überblick, der auch aktuelle For- schungen auf diesem Gebiet nicht außer Acht lässt. Hervorzuheben ist im Rahmen der hier wiedergegebenen Arbeit auch die Art und Weise, in der Frau Stein sich dem fachlichen Thema widmet, auf das sich die Fehlvorstellungen beziehen, die Gegenstand der von ihr entwickelten Erweiterung des Erhe- bungsinstrumentes werden soll: Sie betrachtet dazu das Thema Redoxreak- tionen theoretisch und leitet zu Beginn zunächst sehr nachvollziehbar ab, wa- rum sie sich – entgegen der thematischen Breite im bereits bestehenden In- strument – dafür entscheiden hat, sich nur eines Themas, diesem dafür aber in größerer Tiefe, zuzuwenden. Der in diesem Zusammenhang aufgestellten Behauptung, beim Thema „Redoxreaktionen“ handele es sich um ein Problem- thema des Chemieunterrichts, das mit vielen Schülerfehlvorstellungen behaftet sei, verleiht Frau Stein dann – nach einer zunächst erfolgten umfassenden und zutreffenden Lehrplananalyse – eindrucksvoll Nachdruck, indem sie zu den zentralen Aspekten „Redoxbegriff“, „Reaktionen von Metallen mit Lösun- gen und Gasen“ sowie „elektrochemische Zellen“ eine große Zahl von Fehl- vorstellungen aus der Literatur zusammenführt. Besonders hervorzuheben sind in dieser Arbeit auch die Überlegungen hin- sichtlich des methodischen Vorgehens: In hervorragend reflektierter Weise bedenkt Frau Stein hier ausführlich jeden Aspekt ihres geplanten Vorgehens, so zum Beispiel die Frage der Gütekriterien für Erhebungsinstrumente, in de- ren Rahmen sie insbesondere die Objektivität und Validität differenziert dar- stellt und vor dem Hintergrund ihrer Arbeit ausführt. Besonders eindrücklich sind zudem die Überlegungen zur Herstellung einer authentischen Situation im Kontext ihrer Erwägungen zur Validität, die sie zwanglos und logisch einwandf rei mit der Nutzung von Unterrichtsvignetten in Beziehung zu setzen versteht. Vor dem Hintergrund all dieser Vorüberlegungen werden in der Arbeit schließ- lich sechs hervorragend begründete und sorgfältig konstruierte Items zur Er- weiterung des bestehenden Erhebungsinstruments zur Erforschung des Umg angs von Lehrkräften mit Fehlvorstellungen von Schülerinnen und Schülern vorgestellt, wobei eine große Bandbreite an Itemformaten realisiert wird und die darin zu testenden Fehlvorstellungen nachvollziehbar nach Typ, Kontext und Lehrplanbezug ausgewählt und eingeordnet werden. Angesichts der Tat- sache, dass für die Erstellung der vorliegenden Arbeit nur eine sehr begrenzte Zeit zur Verfügung stand, ist es schließlich hervorzuheben, dass Frau Stein die von ihr konstruierten Items zusätzlich zu ihrer theoretischen Begründung und Konzeption in einer kleinen Pilotstudie getestet und entsprechend den Er- gebnissen weiter optimiert hat. Mit diesem vorbildlich durchgeführten Entwicklungs- und Erprobungsprojekt hat Frau Stein im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Hausarbeit somit einen bedeutsamen Beitrag zur Erforschung des Umgangs von Lehrkräften mit Schüler(fehl)vorstellungen leisten können. Dass diese Arbeit mit dem Martin- Wagenschein-Preis des Zentrums für Lehrerbildung der Universität Kassel ausgezeichnet und hier einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, erscheint mir vor diesem Hintergrund mehr als gerechtfertigt.
Aktualisiert: 2020-06-05
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