Der Wind ist manchmal wie alle /El viento a veces es como todos

Der Wind ist manchmal wie alle /El viento a veces es como todos von Burghardt,  Juana, Burghardt,  Tobias, Bustos,  Ciro, Szpunberg,  Alberto
ALBERTO SZPUNBERG IN SAN TELMO, einem Altstadtviertel von Buenos Aires, hatten wir uns verabredet. Wo sonst? Genauer gesagt: im Café Hipopótamo auf der Calle Defensa, gegenüber vom Café Británico, das damals noch existierte. Wir saßen an einem Fenstertisch mit Blick auf den Parque Lezama, rührten den Löffel in der Tasse, rauchten und sprachen über Poesie, Musik, Argentinien, das Land der Verheißung, Kinder, Revolution, Niederlagen und Projekte. Was sonst? Nahtlos führten wir das begonnene Gespräch später im Café Roma in Barcelona weiter oder auch am Ufer der Donau: „nur die immer offene Geste / des Gedichts“. Alberto Spzunberg wurde am 28. September 1940 in Buenos Aires geboren, als der dortige Frühling gerade seit einer Woche begonnen hatte. Sein Vater war im ukrainischen Schtetl Berdichev gebürtig und dann schließlich auf der Flucht vor den zaristischen Pogromen über Zitomir, Rowne und Marseille, eigentlich unterwegs Richtung Palästina, letztlich nach Argentinien ausgewandert, ebenso wie sein Großvater zuvor, während seine Mutter, deren jüdische Familie aus dem bessarabischen Kolorash (Calarasi, heute: Moldawien) geflohen war, schon in Buenos Aires zur Welt kam. Die unaufhörliche Suche nach dem Gelobten Land, die ethische und politische Dimensionen umfaßt, beseelt die Stimmlagen und Stimmungen vieler seiner Gedichte. Piatock, der Protagonist des Lyrikbandes „Die Piatock-Akademie“, eröffnet die Rede mit einem Satz, der vom Jiddischen ins Spanische transponiert worden ist - (Yo, Piatock, vi muchas cosas en mi vida) - und in der Übersetzung zu seiner Quelle zurückfindet: „Ich, Piatock, ich hob gesén a ßach sachn in majn lebn“. Wie sonst? Manchmal geschehen wunderliche Dinge beim Übersetzen: jenes Satzzitat geht zurück auf einen häufig verwendeten Ausspruch im Haus seiner Eltern, Großeltern und Verwandten, die weiterhin vorzüglich Jiddisch sprachen, auch im nächsten Freundeskreis. Der Satz, der ein Vorspruch zur Mitteilung von freudigen wie auch tragischen Neuigkeiten war, begleitet von einem vagen Lächeln, das schelmisch oder verzweifelt sein konnte, prägte sich tief in die Seele des Sohnes ein, der in Villa Crespo aufwuchs, einem von jüdischen Einwanderern bevorzugten Viertel in der Nähe des Stadtkerns von Buenos Aires. Er besuchte die Schule Colegio Nacional Mariano Moreno, trat 14-jährig dem Kommunistischen Jugendbund bei, schrieb seine ersten Gedichte und studierte nach der Schulzeit Literatur an der Facultad de Filosofía y Letras der Universität Buenos Aires, wo er Jorge Luis Borges kennenlernte, bei dem er Vorlesungen über Englische Literatur hörte. 1962 wurde er wegen vermeintlich prochinesischer Tendenzen aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, indes „allein die Schönheit der Gedichte von Tu Fu und Li Po“ sein Interesse an China ausmachten. Sein Erstling „Poemas de la mano mayor“ (Ediciones Gente del Sur, Buenos Aires) erschien in jenem Jahr, dem bereits 1963 sein zweiter Band „Juego limpio“ (Editorial Nueva Expresión, Buenos Aires) folgte, in dem solche Gedichte wie „Die alten Stalinisten“ (S. 16/17) oder „17. Oktober“ (S. 18/19) den ehemaligen Genossen verdeutlichte, daß „mit einem Parteibuch keine Revolution“ herbeiführbar sei. Der engagierte Dichter studierte zudem Klassische Literaturen und Sprachen, begründete die Widerstandsgruppe Brigada Masetti mit, schrieb erste journalistische Kulturbeiträge, unterrichte am Centro de Estudios Lingüísticos der Universität Buenos Aires und wurde Professor für Argentinische Literatur. Gemeinsam mit Juan Gelman, Luisa Futoranski und weiteren Dichtern wie Miguel Ángel Bustos, Roberto Santoro, Oscar Barros und Haroldo Conti, die zu den 30.000 Verschwundenen der späteren Militärdiktatur zählen, Julio Huasi, der dann im Exil Selbstmord beging, und Paco Urondo, der im bewaffneten Widerstandskampf fiel, gehört Alberto Szpunberg ursprünglich zur „Generación del 60“, bei der Leseabende in kulturellen Vereinigungen und Stadtteilclubs zu Vollversammlungen wurden, in denen über Poesie, den Che, Eva Perón und die Revolution debattiert wurde. Sein dritter Band „El che amor“ (Ediciones 62, Buenos Aires) erhielt eine Würdigung der kubanischen Casa de las Américas und wurde 1966 in Havanna veröffentlicht. Der Militärputsch von General Onganía im Jahr 1966 trieb viele argentinische Intellektuelle, Wissenschaftler und Künstler ins Exil. Das Fest der Poesie begab sich ansonsten in die Katakombenkultur der Hinterzimmer und des Untergrunds. Alberto Szpunberg wurde ebenfalls aus der Universität entlassen und wechselte zum Journalismus über. Er schrieb mehrere Jahre für die Zeitschrift „Panorama“, die damals Tomás Eloy Martínez herausgab, leitete bald die Kulturredaktion, in der auch Miguel Ángel Bustos mitarbeitete. 1973 kehrte Alberto Szpunberg vorübergehend an die Universität zurück, lehrte Argentinische Literatur sowie Medien und Literatur und leitete den Fachbereich Klassische Literaturen und Sprachen, während Francisco ‚Paco‘ Urondo den Fachbereich Moderne Literatur innehatte. Paramilitärische Aktionen zwangen bald dazu, die Universität zu verlassen. Er schloß sich der Widerstandsbewegung Ejército Revolucionario del Pueblo (ERP) an. Bei der Tageszeitung „La Opinión“, herausgegeben von Jacobo Timerman, fand Alberto Szpunberg eine Anstellung und wurde als Nachfolger von Tomás Eloy Martínez, der 1975 ins Exil nach Caracas ging, Leiter der Kulturbeilage. Mit dem Militärputsch vom 24. März 1976 war auch das Ende der Zeitung nur noch eine Frage kurzer Zeit. Sein Artikel über das Verschwinden des Schriftstellers Haroldo Conti und die Festnahme des Redaktionskollegen Enrique Raab, der unter Folter seinen Wohnsitz preisgeben könnte, verbannten ihn in den völligen Untergrund. Jahrzehnte später erfuhr er, daß er damals längst auf einer Todesliste stand und dennoch mit seiner Frau und ersten Tochter ein Jahr in ständig wechselnden Unterschlüpfen bei Freunden und bekannten Mitstreitern, während er Diderots „Jacques, le fataliste“ auf seiner tragbaren Olivetti für den Verleger Manolo Mosquera übersetzte und neuere Gedichte verfaßte, die bei plötzlichen Aufbrüchen verlorengingen, den Staatsterror überlebte, bevor die dreiköpfige Familie am 9. Mai 1977 Argentinien verließ und über Paris ins Exil nach Barcelona gelangte. 1978 erschien in Paris die gemeinsame Anthologie „Il nous reste la mémoire“ mit Gedichten von Juan Gelman, Vicente Zito Lema und Alberto Szpunberg in französischer Übersetzung. In Spanien rekonstruierte er jene verlorenen Gedichte im Band „Su fuego en la tibieza“, für den er 1980 mit dem Lyrikpreis der Universität Alcalá de Henares ausgezeichnet wurde, der im Folgejahr die Veröffentlichung miteinschloß. Darunter befinden sich seine prächtigen Mozart-Briefe (S. 44-51) und der siebenteilige Exil-Zyklus von El Masnou (S. 52-65). Das Preisgeld spendete er an die Madres de Plaza de Mayo. Ein noch wirksamer Erlaß des spanischen Diktators Franco sollte sein Ausweisung beinahe einfordern, aber der Lyrikpreis beschleunigte durch Einbürgerung die spanische Staatsangehörigkeit. Er ging indes für ein Jahr nach Paris, wo er als Redaktionsleiter der Agencia Nueva Nicaragua arbeitete und sich mit Julio Cortázar befreundete. 1982 wurden Gedichte von Alberto Szpunberg und Luis Luchi, der 2000 im Barceloneser Exil starb, von Jorge Sarraute vertont und als Schallplatte mit dem Titel „A medio hacer todavía“ aufgenommen. Er ließ sich wieder in El Masnou bei Barcelona nieder und arbeitet seither für diverse Verlage in Barcelona. Als 1984 die argentinische Demokratisierungsphase einsetzte, konnte er nach sieben Jahren Exil wieder nach Buenos Aires reisen, wo 1987 sein fünfter Band „Apuntes (1982-1985)“ (Tierra Firme, Buenos Aires) veröffentlicht wurde. Die elf Gedichte des ersten, gleichnamigen Kapitels (S. 66-87) erhielten 1983 eine Ehrenwürdigung der von Octavio Paz herausgebenen Kulturzeitschrift „Plural“ (Mexiko-Stadt). Mehrere Gedichte aus jenem Band vertonte der Bandoneonist César Stroccio und verwandelte sie in Tangostücke, die vom Cuarteto Cedrón auf der Schallplatte „Faubourg sauvage“ (Paris, 1983) eingespielt wurden. Der Gedichtband war schon nach wenigen Monaten in Argentinien vergriffen. Alberto Szpunberg konnte nach langen Jahren der Abwesenheit wieder in seinem Geburtsland gelesen werden. Er nahm u.a. 1980 an einem Jüdischen Schriftstellertreffen in Jerusalem, 1992 am IV Lateinamerikanisch-jüdischen Schriftstellertreffen in Buenos Aires und 2002 am X Internationalen Poesiefestival in Rosario teil. Manche Begegnungen oder Meinungsverschiedenheiten im Verhältnis zum Land der Verheißung und den Landschaften der Wirklichkeit führten zu seinem sechsten Gedichtband „Luces que a lo lejos“, für den er in Frankreich den Internationalen Lyrikpreis Antonio Machado 1993/1994 erhielt. Der Buchtitel ist ein Zitat aus dem berühmten Tango „Volver“ von Carlos Gardel. Die Gedichte kreisen um die wechselnden Perspektiven und Erfahrungen der Rückkehr nach Buenos Aires beziehungsweise Barcelona. Er schrieb für die argentinischen Tageszeitungen „Clarín“ und „Página/12“, gab eine Anthologie mystischer Lyriker aus dem jüdischen, arabischen und christlichen Alt-Spanien heraus und veröffentlichte 1997 seine Werkauswahl „Antología poética“ (Fondo Nacional de las Artes, Buenos Aires). An der Universidad Popular Madres de Plaza de Mayo unterrichtete er 2001 die Jahreskurse „Argentinische Literatur und Politik“ sowie „Annäherung an die Poesie“. In Spanien erschien 2002 sein siebter Lyrikband „La encendida calma“ (Mondadori, Barcelona). Aus fünf weiteren Gedichtbänden von Alberto Spzunberg sind zudem etliche Textbeispiele in dieser zweisprachigen und chronologischen Werkauswahl vertreten, die einen unverwechselbaren Weg des profunden Betrachtens, der präzisen Hinterfragung, des poetischen Widerstands gegen das Vergessen, der melancholischen Sehnsucht nach Wahrheit und Gerechtigkeit sowie der bisweilen metaphysischen Lauterkeit seiner Poetik umfassend aufzeichnen: „Transparenz der Stimme / im Wort / der Stille: / was es nicht sagt, ist das, was wir sprechen, / was wir sagen, ist das, was es verschweigt.“ In der Zwischenzeit hatte sich ein Bandoneonspieler ins Café gesetzt und seine Musik dargeboten, vor allem ältere Tangos. Der Caféhausbesitzer wollte ihn schon beinahe vor die Tür setzen, doch wir solidarisierten uns mit dem anonymen Kollegen, so daß er noch eine Weile blieb. Als er dann weiterzog, gingen auch wir auf die Straßen von San Telmo. Alberto Szpunberg gehört zu jenen wesentlichen Dichtern seiner Generation, die über die eigenen weiten sprachlichen Grenzen hinaus in vielen anderen Poesiesprachen zu lesen sind und dort ebenfalls sehr hoch eingeschätzt werden, wenn er einmalig eröffnet: „Jedes Gedicht ist ein Abschied / und ein Gruß.“ Tobias Burghardt
Aktualisiert: 2020-02-09
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Die Piatock-Akademie /La Academia de Piatock

Die Piatock-Akademie /La Academia de Piatock von Burghardt,  Juana, Burghardt,  Tobias, Hernández-D'Jesús,  Enrique, Szpunberg,  Alberto
Das Buch ist ein Traum, der redliche, ernsthafte Traum einer besseren als jener krisengeschüttelten, grimmig-zynischen und in jeder Hinsicht gebeutelten Welt: der Traum von einer gerechten Welt, in der gewisse humanistische Traditionen und Entwicklungen innerhalb der jüdischen Kultur nicht allein für jene, sondern für alle Menschen zurückgewonnen werden können. Der poetische Traum entsteht aus der Zukunft, wiewohl er an die Vergangenheit gekoppelt wird und in der Gegenwart geschieht, indem er unverblümt im Zeitenkreis oder Rad der Zeit webt. Wer ist Piatock? Es gab ihn wirklich. Er war vor rund hundert Jahren ein paríkmaker, ein Friseur und Perückenmacher, im osteuropäischen Schtetl Berdytschiw, einem kulturellen Knotenpunkt für Juden, Polen und Ukrainer seit dem 17. Jahrhundert bis zur Shoa. Piatock war neben seinem Handwerksberuf als Haareschneider und Bartscherer sehr hilfsbereit, wenn es etwa darum ging, eine Latrine mit bloßen Händen zu reinigen oder die Jauchegrube mit der Forke auszuheben und – im wahrsten Wortsinn – den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Er hatte ein Händchen und gutes Gespür für Pferde, denen er ins Ohr flüsterte, manche meinten: 'vielleicht ein Gebet.', andere zweifelten eher: 'besser ist‘s, nicht zu wissen.' Jedenfalls war er für jede Notlage und jedes Elend stets tatkräftig und herzensrein zu haben, um mit seiner bescheidenen Mühe dem Weltenlauf die Bürde dieses entscheidenden Augenblicks leichter ertragbar zu machen, kurz gesagt: dem Barbier von Berdytschiw oder naiven Figaro der Nächstenliebe eilte der mehr nutzbringende als liebevolle Ruf eines weltfremden Hinterwäldlers voraus, wenn nicht gar derber: eines sonderbaren Dorftrottels, eines schrägen Hanswursts vom Jahrmarkt, eines warmherzigen dummen Augusts, der sich ansonsten mit der Geringachtung und dem Scheitern abgefunden zu haben schien. Der Vater des 1940 in Buenos Aires geborenen Dichters Alberto Szpunberg war Uhrmacher und floh im frühen 20. Jahrhundert aus seinem Geburtsort Berdytschiw vor der Armut, dem Kriegsgeschrei und den zaristischen Pogromen nach Argentinien, wo er ein bißchen später gerne seinem Sohn von der fernen Heimatstadt erzählte, in der Berühmtheiten wie Balzac gelebt hatten, der in Berdytschiw seine Geliebte, eine russische Gräfin, die gerade verwitwet war, heiratete, wo der polnisch-britische Schriftsteller Joseph Conrad, der jiddisch-russische Dichter und Erzähler Pinchas Kahanowitsch, der ukrainisch-amerikanische Pianist Vladimir Horowitz und der russische Schriftsteller und Journalist Wassili Semjonowitsch Grossman das Licht der Welt erblickten oder der chassidische Rabbiner und Zaddik Levi Jizchak ben Meir von Berditschew (in der russische Schreibweise des galizischen Schtetls) predigte und den Reichen bisweilen ins Gewissen sprach, wenn er ihnen vorhielt, 'die Matzen für das Pessachfest mit dem Schweiß der unterbezahlten Arbeiter zu kneten.' Als der letzte Zar Nikolaus II. nach der Februarrevolution abdankte, lief im Schtetl die Intelligentsia auf die Gassen und sang die Marseillaise, denn kaum jemand, weniger noch Piatock, der weniger als niemand war, konnte die Internationale singen; nur sehr wenige wußten dort vielleicht schon, sie vor sich hinzusummen. Die Französische Revolution von 1789 erreichte Berdytschiw schließlich erst 1917. Bald gehörte das Städtchen zur Ukraine, Polen oder Rußland und wurde vom Dritten Reich besetzt. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und der Traum von großen Ideen, die die Welt bewegen, beflügelten und erhitzten die Gespräche mit dem Vater, der immer wieder darauf beharrte, daß 'die Welt nicht eher gut in Gang kommt, bevor sie nicht von der Platonischen Akademie regiert wird'. Alberto Szpunberg konterte mit jugendlicher Begeisterung: 'Platon? Nein, Papa., sondern Piatock! Die Welt muß in die Händen der Piatock-Akademie gelegt werden!' Die höchsten Ziele sollten von einfachen Menschen beraten werden: 'von ganz unten'. Allein Piatock, der Hinterweltler, könnte die Gültigkeit von Vernunft, Schönheit und Gerechtigkeit für alle sicherstellen. Mit dem Literaturstudium des Sohnes in Buenos Aires, bei dem er Jorge Luis Borges kennenlernte, dem Widerstandskampf in der Brigada Masetti, der Stadtguerilla, dem Militärputsch der argentinischen Gorillas vom 24. März 1976, dem Untergrund, der Flucht mit seiner Frau und ersten Tochter, dem Exil in Spanien und der Rückkehr nach Argentinien, entstand allmählich 'Die Piatock-Akademie' zwischen Legende und Witzeleien als sein poetischer Entwurf und persönlicher Beitrag zum 'Tikkun Olam', der Reparatur der Welt oder Weltverbesserung, wie es in einer Mitzwe des rabbinischen Judentums von den verzweifelten Kabbalisten im Mittelalter aufgegriffen wurde, um ein für allemal mit den inquisitorischen Verbrennungen aufzuhören, den eigenen und anderen. Piatock feierte natürlich den Schabbat und arbeitete samstags folglich nie, die Muße und Faulheit war ihm religiöses Gebot, weit bevor Paul Lafargue, ein Schwiegersohn von Karl Marx, sie zum Grundrecht erklärt hat. Piatock hielt sich jedoch ebenso an das heilige Gebot des Lebens, daß ihm und seinen Familienangehörigen beim Einmarsch der Nazi-Wehrmacht keinen Freitod erlaubte; gerade 15 Berdytschiwer Juden überlebten. Piatock heißt außerdem der Kater der jüngeren Tochter der Dichters, die im katalonischen Exil geboren wurde, und maunzt mitunter, obgleich er niemals durch die Berdytschiwer Gassen streifte, auch mal auf Jiddisch: ich hob gesén a ßach sachn in main lebn. Nach der bitterbösen politischen Erfahrung in der guevaristischen Linken, dem Verschwinden von 30.000 Menschen durch den Staatsterror der letzten Militärdiktatur 1976-1983 und dem Scheitern des revolutionären Projekts in Argentinien, das weltweit auch keineswegs erfolgreich war und schlußendlich versandete, kam in ihm das Bedürfnis eines tiefgründigen Neuentwurfs auf, der sich in einzelnen Gedichten ausdrückte, die nach und nach mit der Stimme einzelner Mitglieder der Piatock-Akademie sprachen, als befänden sie sich in einer ständigen Versammlung und nähmen den alten Traum der Pariser Kommune erneut auf, der selbst in den Stadtviertelversammlungen 2001 in Buenos Aires auflebte. Darunter befinden sich Gestalten wie der Hungrige Kabbalist, der stottert ('mit schwerem Mund'), der Musiker César Stroscio am Bandoneón, der verschwundene Dichterfreund Miguel Ángel Bustos, ein 'Luftmensch' wie der blaue Geigenspieler von Marc Chagall, ein Rabbiner in Lumpen, den es nach Ñancahuazu auf der Suche nach Che Guevara zieht oder der Bakuninsche Botaniker. Bei jeder einzelnen poetischen Wortmeldung kommen die jeweiligen Bedenken, Vorschläge und Sorgen auf den Tisch, erneute Handzeichen sowie Diskussionen miteinander. Der Mathematiker Merkell, bei dem man hier auf unerklärliche Weise an die Regentschaft der Physikerin Merkel denken könnte, warum auch nicht, möchte ja glauben machen, daß 1 + 1 nicht 2 sind. Der Glasarbeiter entdeckt den Zusammenhang zwischen den Glasscherben, die jeden Tag seine Hände verletzen, und dem Wüstensand, den er seit dem langen Marsch aus der Lohnempfänger-Sklaverei ins Gelobte Land durchquert, jenem eher befreiten, denn kartographierten Gebiet, in dem selbstverständlich für alle Milch, d.h. Nahrung, und Honig, d.h. Süße, ebenfalls eine unentbehrliche Lebensgrundlage, fließen würden. Der rote Faden bleibt einstweilen Piatock vorbehalten, der immer wieder bereitwillig ansetzt, trotz seiner unermeßlichen Welterfahrung eine weitere, bislang ungeschaute Nuance im komplexen Weltenrund zu entdecken, die eine winzige Drehung mehr Schrecken oder Staunen hervorruft, welche das Leben fortlaufend beschert. Mehrfach ergreift der Bibliothekar der Akademie, Reb Arieh Leib ben Naftule, das Wort, der in längst gelesenen Büchern blättert und diese neu betrachtet, in echten Werken wie 'Das Kapital' oder 'Das Kommunistische Manifest' von Marx oder in alten Schriften, teils apokryphen, teils ungeschriebenen, teils erfundenen wie 'Das Buch des Feuers', 'Das Wolkenbuch' und manch andere. Zumal die Versammlung demokratisch und alle beteiligend ist, kommt auch das Pferd von Piatock zu Wort und erzählt von seinen Träumen und Alpträumen, wiehert seinen Liebeskummer, was andere Anwesende kommentieren und ausdeuten. Die Debatten der Piatock-Akademie speisen sich aus zwei wesentlichen Überlegungen, die den argentinisch-jüdischen Dichter maßgeblich bewegen, wie er eigens betont: 'die tragische Krise (Letzter Verfall? Manchmal verzweifle ich.) des jüdischen Humanismus in den von erzrechten Regierungen Israels besetzten Gebieten Palästinas und die tragische Erfahrung des bewaffneten Kampfes in Argentinien. Beide Bezüge erlauben mir, zwischen dem philosophischen Hintergrund der ewigen Träume von einer besseren Welt (das 'Gelobte Land') und den politischen Praktiker der Linken, seit der Pariser Kommune bis heute, hin- und herzugehen – besser gesagt: sie bringen und tragen mich genau dazwischen. Wenngleich beide Motive im Grunde eine gleiche Reflexion darstellen.' Die poetische Fortschreibung zeigt Spuren von Spruchzeilen und Versen, ähnlich der Bibel und dem Talmud oder dem Werk von Walt Whitman, jenseits des Diskursiven, und verknüpft sich hin und wieder bildhaft mit erzählerischen Elementen oder Episoden der Weltgeschichte, etwa der Erstürmung des Winterpalastes, der Erhabenen Unruhe von Artigas, den Folterkammern der argentinischen Diktatur, den 'Verschwundenen' oder den Müttern der Plaza de Mayo, sowie der privaten Geschichtsschreibung der Einzelnen, wozu das Ausüben und Erleiden von Gewalt, Gefängnis, Folter, frustrierte Liebe und beschämende Entlohnung gehören. Eine religiöse Empfindung, sei sie konfliktiv oder harmonisch, übergeht niemals, sondern verbindet immer wieder das Persönliche und das Allgemeine, den Zweck und die Mittel, die Träume und die Wirklichkeit, die kollektive Gestaltung und die persönliche Freiheit, den Verstand und den Wahnsinn, die Macht und die Demokratie, den Verursacher und das Opfer oder den Befehl und den Gehorsam. Mit der ersten These seines Werkes 'Über den Begriff der Geschichte' versucht Walter Benjamin, auf die Wesensverwandtschaft (im Sinne von Max Weber) zwischen Theologie/Religion (dem jüdischen Messianismus) und dem historischen Materialismus (Marx) hinzuweisen, die in zahlreiche Schriften von Adorno, Horckheimer, Habermas, Gershom Scholem, Yosef Hayim Yerushalmi und Michael Löwy einfließt. Gegenüber den fortschrittsgläubigen, linearen Zeitläuften, gemessen in Fünfjahresplänen, bekannte sich Benjamin zur qualitativen und vielschichtigen Zeit der stets offenen Geschichte, die nicht nur aus der Zukunft, sondern auch mit der Vergangenheit webt und somit erst gemeinsam die Gegenwart aperspektivisch erneuernd mitgestalten kann. Eines schönen Tages schloß Alberto Szpunberg die Versammlungsakten der Piatock-Akademie, der er selbstredend angehört: 'Auf bedrückende Weise empfinde ich die Tragödie Palästinas wie eine Wasserscheide. Die ethische Neubesinnung angesichts so vieler bleierner Übergriffe ist für die Juden aus allen Winkeln der Welt unbedingt nötig, beginnend mit Israel selbst, beginnend bei mir selber. Im Zusammenhang mit dem Gebot 'Zachor: Erinnere dich!' sollten wir uns mit aller Wucht und Konsequenz erinnern, als ob im selben Augenblick des Erinnerns das Erinnerte lebendig würde, und uns dabei bewußt machen, daß kein Verbrechen – schon gar nicht und noch viel weniger die Shoa – ein anderes Verbrechen rechtfertigt. Er geht nicht darum, Schrecken zu vergleichen, zu messen, zu verbuchen oder abzuwägen: wenn sich das Opfer in einen Verursacher verwandelt, verbleibt die Macht – verfluchte Beilschneide – in den Händen des Henkers. Und in diesem Sinne ist die folgende Zitatstelle aus dem Talmud Jerushalmi universal eindeutig und klar: Wer einen einzelnen Menschen rettet, hat gleichsam die ganze Welt gerettet!' In den Debatten der Piatock-Akademie klingen darüber hinaus Wortsplitter, Gedankenblitze und Satzfragmente der 'Linken' wider, die inmitten der aktuellen Verwirrung selten ihr eigenes Scheitern thematisiert und nun doch einmal überprüfen kann, welche gemeinsamen ethischen Werte die Menschen überhaupt auf die Straßen treiben. Nicht nur Palästina und Israel, sondern alle, würde Piatock an dieser Stelle gerechterweise einwerfen, verlangen unwiderruflich danach. Wenn jedoch der jüngste Piatock, der katalanische Kater, an Wänden und Möbeln kratzt oder geschickt dem Jagdinstinkt frönt, grübelt der Dichter der Piatock-Akademie, ob diese Obsession der 'Weltverbesserung' jedem Schicksalsschlag widersteht. Alles wird sich wohl hinauszögern. In der Zwischenzeit erschien bereits 'Die Piatock-Akademie' in Venezuela und Argentinien. Auf Hebräisch sind gerade erste Übersetzungen daraus in Tel Aviv gefertigt worden. In Prag und Dresden las Alberto Szpunberg letzten Spätsommer vor ergriffenen Zuhörern, die sehr bald begriffen, ein traumhaft scharfsinniges Lyrikwerk kennenzulernen, das von einem engagierten Schriftsteller geschrieben und gelesen wurde, der schon mancherlei Dinge in seinem bewegten Leben gesehen und erlebt hat. Eine Piatock-Auswahl veröffentlichte die Zeitschrift 'Ostragehege'. Die Werkauswahl 'El viento a veces es como todos – Der Wind ist manchmal wie alle' (Edition Delta, Stuttgart 2008) mit Gedichten aus den Jahren 1962 bis 2007 schließt mit seinem Biogramm. Tobias Burghardt (Der Barbier von Berdytschiw)
Aktualisiert: 2020-02-09
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