Den letzten Weg gemeinsam gehen. Angehörige in Pflege und Begleitung schwerkranker onkologischer Patienten.

Den letzten Weg gemeinsam gehen. Angehörige in Pflege und Begleitung schwerkranker onkologischer Patienten. von Tchitchekian,  Gérard
Kap 14 Wegweiser für ein angemessenes Unterstützungssystem: Fazit und Ausblick Ziel dieser Arbeit war es, die Situation pflegender Angehöriger krebskranker Patienten systematisch zu untersuchen, dabei eigene Ergebnisse einer Studie zur Lage der palliativen Pflege zwischen Klinik und häuslicher Umgebung einzubeziehen und die bestehenden psychosozialen Unterstützungsangebote kritisch zu würdigen, um abschließend Grundlagen eines Unterstützungssystems aufzuzeigen. Mit der Verkürzung der Krankenhausverweildauer und der verlängerten Überlebenszeit für viele Krebserkrankungen ist die häusliche Pflege zum bevorzugten Setting für die Versorgung von Patienten mit fortgeschrittener Erkrankung geworden. Gleichzeitig führt die erhöhte Lebenserwartung dazu, dass die Zahl älterer onkologischer Patienten steigt und weiter steigen wird. Diese wachsende Patientenpopulation ist bisher sowohl im Bereich der Forschung, als auch im Bereich der Versorgung unterbehandelt, da viele der mit dem Alter und der gehäuften Multimorbidität verbundenen Probleme innerhalb der auf Jüngere zugeschnittenen Routineversorgung unberücksichtigt geblieben sind. Dies gilt auch für die besonderen Herausforderungen einer häuslichen Pflege dieser Patientengruppe. Es liegen mittlerweile zahlreiche wissenschaftliche Belege dafür vor, dass die Pflege eines onkologisch erkrankten älteren Angehörigen durch Familienmitglieder zu beträchtlichen Belastungen im Hinblick auf die körperliche, psychische, soziale und (jedenfalls in den USA) finanzielle Situation führen kann. Pflege erfordert hierbei ein breites Repertoire an Fertigkeiten („skills“), die in den komplexen Anforderungssituationen („demands“) der Pflege zur Anwendung gebracht werden müssen. Hierfür sind, nicht zuletzt durch den spezifischen onkologischen Krankheitsverlauf bedingt, viele Angehörige nicht vorbereitet. In vielen Fällen führen Überforderung und gesundheitliche Probleme des pflegenden Angehörigen maßgeblich zur (Re-) Hospitalisierung des Patienten, was eigentlich vermeidbare Kosten im Medizinsystem verursacht und zu der für alle Beteiligten unerwünscht hohen Sterberate in Kliniken und Heimen beiträgt. Eine eigene Untersuchung an älteren palliativen Patienten und ihren pflegenden Angehörigen zeigte, dass die weiblichen Pflegenden, für deren Patienten ein hoher intensiver Pflegebedarf bestand und die vor allem im Krankenhaussetting pflegten, die höchste psychische Belastung aufwiesen. Insgesamt am stärksten belastet (körperlich und psychisch) waren weibliche Angehörige mit hoher Pflegelast und geringen Erholungsmöglichkeiten. Der Zugang und die Inanspruchnahme von Erholung war ein wesentlicher Prädiktor für die Belastung der Pflegenden, wobei es weiblichen Pflegenden weniger gut zu gelingen scheint, sich in der Pflegesituation Erholungsmöglichkeiten zu verschaffen. Eine höhere Lebensqualität für diesen Personenkreis hängt ebenfalls stark von Erholungsmöglichkeiten ab. Auffällig war überdies, dass nur 7% der Pflegenden externe Hilfsangebote nutzten. Diese Ergebnisse scheinen auch katamnestisch nach 12 Monaten gültig zu sein. Was ergibt sich daraus für ein zukünftiges Unterstützungssystem? Die gesellschaftliche Herausforderung, die sich mit dem wachsenden Hilfe- und Pflegebedarf ergibt, kann nicht von den Angehörigen allein oder von dem Gesundheitssystem bewältigt werden. Das bestehende Hilfesystem mit seinen zwei Prinzipien der Institutionalisierung und Professionalisierung des Helfens- und Pflegens, ist heute bereits an seine Grenzen gestoßen und erscheint als Zukunftsmodell unbrauchbar. „Desiderata“ für eine künftige Gestaltung der Betreuung chronisch Kranker und Alter werden so zum Modell eines „Bottom-up“-Ansatzes Betroffener und sich betroffen fühlender Menschen im Unterschied zum gegenwärtigen „Top-down“-Modell zunehmend ohnmächtiger staatlicher Reformen und Verordnungen. Es lassen sich sechs Desiderata formulieren: Erstens wird sich angesichts des wachsenden Pflegebedarfs die Institutionalisierung (Pflegeheime/Kliniken) des Helfens in eine Deinstitutionalisierung wenden müssen, sowohl aus ökonomischen als auch aus humanitären Gründen („wer möchte schon im Heim sterben?“). Die Professionalisierung des Helfens muss qualitativ „umprofessionalisiert“ werden, weil die professionellen Helfer nicht mehr alles selbst tun können, stattdessen aber andere, die Bürger, zum Helfen zu mobilisieren und zu begleiten haben. Es wird als neues Prinzip des Helfens einen „Bürger-Profi-Mix“ geben. Dies wird auch für die Professionen nicht ohne dramatische Veränderungen möglich sein. So wird sich die im Kern „Akut-Medizin“ zur einer „Chronisch-Kranken-Medizin“ umorientieren müssen. Die zivile Gesellschaft wird neben Arbeitszeit und Freizeit die „Sozialzeit“ des Bürger-Helfens vorsehen müssen, die „Bedeutung für Andere“ weitergibt. In dieser sozialen Bürgerhilfebewegung, deren Vorläufer die in den 80er Jahren entstandene Kultur der Nachbarschaftshilfe, Aidshilfe, Selbsthilfe, Hospizbewegung, Wohnpflegegruppen etc. darstellt, wird der „dritte Sozialraum“, also der Raum zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sozialraum: das Stadtviertel, die Dorfgemeinschaft und die Nachbarschaft, wiederbelebt werden. In diesem übersichtlichen „Wir“-Raum können Bürgerhilfe und Profihilfe in Form von Pflegestützpunkten und Stadtviertel-/Dorfwohnpflegegruppen zusammenfinden. Was im Augenblick vielleicht noch utopisch klingen mag, sollte aber als möglicher gesellschaftlicher Entwurf zunächst ernsthaft aufgenommen werden, dem später weitere Problemlösungen folgen könnten. Zweitens müssen die Pflege und die palliative Versorgung ähnlich der Kindererziehung zu einer Aufgabe der Zivilgesellschaft gemacht werden. Die mit der Pflegereform 2008 begonnenen Verbesserungen der Freistellung von Angehörigen für Pflegeleistungen muss durch eine Transferleistung so verbessert ausgeweitet werden, dass eine Pflege für Berufstätige finanziell ermöglicht werden kann. Gleichzeitig sollten Pflegezeiten endlich anerkannt, und für die Nachbarschaftshilfe sollten Rentenvorteile gewährt werden. Drittens muss auf der Ebene des Gesundheitssystems, nachdem endlich auch offiziell im Nationaler Krebsplan die Notwendigkeit einer psychosozialen Einbeziehung von Patient und Angehörigen in die onkologische Behandlung akzeptiert worden ist, diese Neuorientierung sowohl in der stationären Versorgung (z.B. Screening, indikative Behandlungspfade) als auch in der häuslichen palliativen Pflege (z.B. Spezialisierte Ambulante Palliative Versorgung, Kurzzeitpflege) umgesetzt werden. Viertens liegen in der klinischen Versorgung bereits brauchbare Instrumente vor, die eine Identifikation und indikationsorientierte Betreuung/Behandlung von Patienten und Angehörigen mit psychosozialen Schwierigkeiten ermöglichen. Dabei verschiebt sich die klinische Fragestellung von der einer prävalenzorientierten („Wie viele Patienten/Angehörigen sind psychisch wie belastet?“) hin zu einer versorgungsorientierten („Wie kann Patienten/Angehörigen mit krankheits-/pflegebezogenen Belastungen am besten geholfen werden?“). Im stationären Bereich muss die Finanzierung solcher im Verhältnis zur Gesamtbehandlung insgesamt kostengünstigen Maßnahmen dringend geklärt werden. Fünftens profitieren, soweit Angebote seitens des Gesundheitssystems vorhanden sind, immer noch viel zu wenige Angehörige davon. Daher gehören niederschwellige und aufsuchende Angebote, die möglichst vom „Dritten Sozialraum“ ausgehen und getragen werden und auch zielgerichtet unterversorgte Gruppen wie Migranten berücksichtigen, zum erforderlichen Maßnahmenkatalog. Sechstens hat der Ausbau der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung durch die Krankenkassen dringend zu erfolgen, so wie es der Gesetzgeber 2008 vorgesehen hat. Schließlich sind auch ärztliche und psychologische Psychotherapeuten gefordert, sich nach entsprechender psychoonkologischer Weiterbildung deutlich stärker als bisher für diese besonders vulnerable Patientengruppe zur Verfügung zu stellen. Was kann und sollte psychosoziale Forschung für die Unterstützung pflegender Angehöriger tun? Trotz einiger vielversprechender Ansätze konnten bisher psychosoziale Interventionen nicht so weit auf ihre Wirksamkeit hin abgesichert werden, dass ihre Implementierung in die Routineversorgung zum gegenwärtigen Zeitpunkt bedenkenlos angeraten erschiene. Als Hinweis für künftige Strategien ergibt sich, dass globale psychische Indizes (z.B. Depressivität, Angst) zu wenig änderungssensitiv sein dürften, spezifisch auf die Intervention bei einer wohldefinierten Gruppe zugeschnittene Maße adäquater zu sein scheinen und Maßnahmen, die sowohl auf psychologische Parameter als auch auf verbesserte Pflegefertigkeiten abzielen, vielversprechend sein dürften. Hierzu ist dringend Forschungs- und Erprobungsbedarf geboten, zumal die bisherigen Untersuchungen fast ausschließlich aus dem anglo-amerikanischen Raum (inkl. Australien) und Skandinavien stammen. Die Forschung zur Belastung von pflegenden Angehörigen von älteren onkologischen Patienten stand bisher im Schatten der Demenzforschung. Es scheint sinnvoll, einige der dort gewonnenen Erkenntnisse bezüglich Modellbildung und Forschungsdesign aufzunehmen und weiter zu entwickeln. Die Verwendung spezifischer Belastungsmodelle unter Einbeziehung von Moderator- und Mediatorvariablen könnten die aus der Pflege resultierenden gesundheitlichen Probleme besser erklären helfen, Risikogruppen identifizieren und für ein besseres Verständnis der Faktoren sorgen, die die Beziehung zwischen Pflege und Gesundheit des pflegenden Angehörigen beeinflussen. Dies beinhaltet die Entwicklung und Verwendung validerer Erhebungsinstrumente und den Einbezug physiologischer Parameter, um die Auswirkungen der Pflege auch auf somatischer Ebene abzubilden. Im Hinblick auf das Forschungsdesign sind prospektive Verlaufsstudien notwendig, die praktisch durch Einbeziehung laufender allgemeiner Bevölkerungsstudien (z.B. Berliner Altersstudie) durchgeführt werden könnten. In der Angehörigenpflegeforschung werden die Beteiligten zumeist immer noch als getrennt von ihrer dyadischen Interaktion betrachtet. Die Perspektive, den Pflegeprozess als einen gemeinsamen „zirkulären“ zu sehen, erfordert andere methodische Vorgehensweisen als die traditionellen, da die dyadischen Daten nicht als unabhängig voneinander angesehen werden können, was aber die meisten traditionellen statistischen Verfahren voraussetzen. Hier liegen aus der Paar-und Familienforschung dyadenspezifische methodische Ansätze vor, die genauere Informationen über die Beziehungen und Veränderungen von Patient- Angehörigenvariablen generieren könnten. Wir stehen in der palliativen Betreuung von älteren onkologischen Patienten durch ihre Angehörigen vor großen Herausforderungen, die von allen Beteiligten die Bereitschaft erfordern, sich auf neue Ansätze einzulassen. Erfolgversprechende Modelle und Interventionen, die im Rahmen psychoonkologischer und pflegewissenschaftlicher Forschung durchgeführt wurden und werden, zeigen, dass nicht nur die Angebotsstrukturen in der Praxis durch Koordination und Kooperation verändert werden müssen, sondern dass sich vernetztes Denken vor allem in den Köpfen der gesellschaftlichen Akteure herstellen muss. 1
Aktualisiert: 2023-05-03
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