Alle parlamentarischen Demokratien sehen sich gleichermaßen mit der Problemstellung konfrontiert, die rechtsetzenden Funktionen zwischen Parlament und Regierung aufzuteilen. Diesbezüglich erweist sich die Wahrnehmung von Rechtsetzungsbefugnissen durch die Regierung als ein in allen demokratischen Verfassungssystemen anzutreffendes Instrument zur Entlastung des Parlaments von der Vielzahl seiner Gesetzgebungsaufgaben. Bereits ein Blick auf die Anzahl von 493 allein in der 12.Wahlperiode (1990 bis 1994) des Bundestages erlassenen Gesetze verdeutlicht die Aktualität des Problems. Diesen 493 Gesetzen der 12.Wahlperiode stehen 366 Gesetze in der 11.Wahlperiode und 320 Gesetze in der 10.Wahlperiode gegenüber. Angesichts dieser Aufgabenbelastung des parlamentarischen Gesetzgebers wird die Ausübung von Rechtsetzung durch die Regierung zu einem unentbehrlichen Mittel. Dies spiegelt sich in der Zahl der erlassenen Rechtsverordnungen wider. Den 493 erlassenen Gesetzen der 12.Wahlperiode standen im gleichen Zeitraum 1695 Rechtsverordnungen gegenüber.
Mit diesem Problem der Aufteilung von Rechtsetzungsbefugnissen zwischen Parlament und Regierung verbinden sich grundlegende Fragestellungen. So müssen die Verfassungsordnungen die Frage klären, welche Rechtsetzungsinstrumente der Regierung für die Ausübung ihrer Rechtsetzung zur Verfügung zu stellen sind und unter welchen Voraussetzungen von den Rechtsetzungsbefugnissen Gebrauch gemacht werden kann. Im Hinblick auf die Grenzen solcher Rechtsetzungsbefugnisse ist die Frage von besonderer Bedeutung, inwieweit rechtsstaatliche Sicherungen gegen Überschreitung und Mißbrauch bestehen, um die Einhaltung der Befugnisse von Parlament und Regierung zu gewährleisten und ein Übergreifen der Regierung auf die grundlegenden Gesetzgebungsfunktionen des Parlaments zu unterbinden. Nur durch effektive Kontrollmechanismen kann sichergestellt werden, daß sich die rechtsetzenden Gewalten nicht über die verfassungsrechtlichen Vorgaben hinwegsetzen können.
Das Problem einer Aufteilung der Rechtsetzungsbefugnisse zwischen Parlament und Regierung und die genannten, damit zusammenhängenden grundlegenden Fragen lösen die verschiedenen parlamentarischen Demokratien auf zum Teil sehr unterschiedliche Weise.
In dieser Veröffentlichung will der Autor zeigen, welche Lösung das Verfassungssystem Spaniens nach der Verfassung vom 29. Dezember 1978 bietet. Besonders fruchtbar ist eine Auseinandersetzung speziell mit der spanischen Lösung im Hinblick darauf, daß im Bereich der Rechtsquellen, insbesondere der Rechtsetzung der Regierung, in Spanien keine Rezeption des Grundgesetzes stattgefunden hat. Während sich die spanische Verfassung beispielsweise auf dem Gebiet der Grundrechte und der Verfassungsgerichtsbarkeit stark an das Bonner Grund-gesetz anlehnt, erscheint das Rechtsquellensystem in Spanien als ein Bereich, der am wenigsten vom Grundgesetz beeinflußt wurde.
Daneben folgt die Verfassung von 1978 bewußt nicht der von der französischen Verfassung der Fünften Republik vom 4. Oktober 1958 eingeführten materiellen Abgrenzung der Kompetenzbereiche des Gesetzgebers auf der einen und des autonomen Verordnungsgebers auf der anderen Seite, nachdem im Verlauf der Ausarbeitung der Verfassung von 1978 eine intensive Auseinandersetzung mit dem neuen Verordnungsbegriff der französischen Verfassung stattgefunden hatte.
In der Periode des Übergangs von 1975 bis 1978 stand stets die Vermeidung der "ruptura", des offenen Bruchs mit der bisherigen Verfassungsentwicklung, im Vordergrund. Die politischen Kräfteverhältnisse in der Zeit des Überganges ließen anstelle der Vollziehung einer solchen "ruptura" eher das Beschreiten eines behutsamen Weges zur demokratischen Ordnung angebracht erscheinen. Dies manifestiert sich gerade auch im Bereich der Rechtsetzungsinstrumente der Regierung unter der Verfassung von 1978, die an Rechtsetzungsinstrumente der alten Ordnung anknüpfen.
Diese Ausgangslage bei der Entstehung der spanischen Verfassung von 1978 hat schließlich auch ihren Niederschlag im Charakter des Verfassungstextes gefunden. So ist die spanische Verfassung aufgrund ihres Kompromißcharakters in weiten Teilen bewußt offen gehalten. Dieser dispositive Charakter bedingt, daß dem Parlament und der Regierung in Spanien eine maßgebliche Funktion bei der Entwicklung des Verfassungsrechts zukommt.
Die Komplexität der Problematik einer Aufteilung von Rechtsetzungsbefugnissen zwischen Parlament und Regierung macht eine Begrenzung des Themas erforderlich. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf die Untersuchung der staatlichen Gesetz- und Verordnungsgebung. Damit erfolgt eine thematische Abgrenzung von bereits vorhandenen Arbeiten über die Zuständigkeitsverteilung zwischen dem spanischen Staat und den Autonomen Gemeinschaften. Infolgedessen wird im folgenden die Aufteilung von Rechtsetzungsbefugnissen in den spanischen Autonomen Gemeinschaften nur behandelt, soweit dies zum Verständnis der staatlichen Strukturen unbedingt erforderlich erscheint.
Die in der spanischen Verfassung von 1978 getroffene Lösung zur Aufteilung der rechtsetzenden Gewalt im Staat darf nicht isoliert betrachtet werden. Die spanische Lösung steht vielmehr in untrennbarem Zusammenhang mit der wechselvollen spa-nischen Verfassungsgeschichte. Erst die Auseinandersetzung mit den der spanischen Verfassung von 1978 vorangegangenen historischen Verfassungsdokumenten seit Beginn des 19.Jahrhunderts schärft das Verständnis für die Entscheidungen, die schließlich im Verlauf der Ausarbeitung der Verfassung von 1978 in bezug auf die Rechtsetzungsbefugnisse von Parlament und Regierung getroffen worden sind. Mit Blick auf diesen Befund ist der Untersuchung der Aufteilung rechtsetzender Gewalt unter der gegenwärtigen spanischen Verfassung eine Auseinandersetzung mit der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung in Spanien seit Beginn des 19.Jahrhunderts vorangestellt (Erstes Kapitel). Diese historische Darstellung vermag sich insofern von bereits vorhandenen Behandlungen der spanischen Verfassungsgeschichte abzugrenzen, als nachfolgend ausschließlich die Entwicklung der legislativen und exekutiven Rechtsetzungsbefugnisse seit Beginn des 19.Jahrhunderts unter Betrachtung der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung des Verhältnisses von Parlament und Regierung nachgezeichnet werden soll.
Eine synoptische Darstellung der Rechtsetzungsbefugnisse der Regierung in Abgrenzung zum Parlament in der spanischen Verfassungsgeschichte soll die Entwicklung seit Beginn des 19.Jahrhunderts veranschaulichen. Die tabellarische Chronik zur Ausarbeitung der spanischen Verfassung von 1978 vom Tod Francos bis zum Inkrafttreten der Verfassung am 29.Dezember 1978 erleichtert die zeitliche Einordnung der zahlreichen Bezugnahmen der vorliegenden Arbeit auf die Materialien zur Entstehungsgeschichte der Verfassung von 1978.
An die historische Darstellung, die sich naturgemäß besonders eingehend mit dem Verfassungssystem des franquistischen Staates als unmittelbaren Vorläufer der Ver-fassung von 1978 sowie der Übergangszeit von 1975 bis 1978 beschäftigt, schließt sich, quasi vor die Klammer gestellt, eine Auseinandersetzung mit der Rechtsetzung durch die Regierung in Spanien im Gesamtgefüge der spanischen Rechtsordnung und mit den Besonderheiten des Gesetzgebungsverfahrens nach spanischem Verfassungs-recht an (Zweites Kapitel). Auf diese Weise können in den darauffolgenden Kapiteln erläuternde Exkurse vermieden werden.
Untersuchungsgegenstand des Dritten und Vierten Kapitels ist die eingehende Analyse der mit Gesetzesrang ausgestatteten Rechtsetzungsinstrumente des "Decreto legislativo" (gesetzesvertretende Verordnung) und des "Decreto-ley" (Gesetzesdekret) mit besonderem Blick auf deren Ursprünge, Dogmatik und Rechtsetzungspraxis.
Das Fünfte Kapitel behandelt das Instrument der Rechtsverordnung in Spanien. Neben der Frage nach Art und Umfang von Verordnungsermächtigungen und der Ausübung der Verordnungsgewalt soll unter anderem nachgezeichnet werden, inwieweit bei der Ausarbeitung der spanischen Verfassung von 1978 eine Auseinandersetzung mit dem Gesetzes- und Verordnungsbegriff der französischen Verfassung der Fünften Republik vom 4.Oktober 1958 erfolgte.
Die Ausprägungen allgemeiner Kontrollinstrumente der Cortes Generales gegenüber der Regierung in Spanien, mithilfe derer die Cortes Generales eine mittelbare Kontrolle gegenüber der Rechtsetzung der Regierung ausüben, sind Untersuchungsgegenstand des Sechsten Kapitels.
Das Siebte Kapitel widmet sich schließlich einer Schlußbetrachtung zur Gesetz- und Verordnungsgebung auf zentralstaatlicher Ebene in Spanien und bundesstaatlicher Ebene in Deutschland, in der die Chancen und Gefahren der spanischen Lösung sowie Wege zur Stärkung der Rechtsetzungsbefugnisse in Deutschland diskutiert werden.
Abschließend sei noch auf ein Problem jeder Arbeit hingewiesen, die eine fremde Rechtsordnung zum Gegenstand hat: Die Begriffe der fremden Rechtsordnung sind in das fremde System eingebettet und entbehren vielfach eines Äquivalents in der eigenen Rechtsordnung, so daß eine Darstellung der fremden Rechtsordnung grundsätzlich mit den Begriffen jener Rechtsordnung erfolgen sollte. Auf der anderen Seite erfordert jedoch die Verständlichkeit für den Leser Übersetzungen der entsprechenden Begriffe. Dieses Problem wird besonders in der vorliegenden Arbeit deutlich, die eine Problematik zum Gegenstand hat, für die keine gegenseitige Rezeption der jeweiligen Lösung erfolgt ist und die im Zusammenhang mit zahlreichen Begriffen steht, für die die deutsche Rechtsordnung kein Äquivalent kennt. Der Verfasser hat dieses Problem dadurch zu lösen versucht, daß die spanischen Begriffe entweder, soweit zum Verständnis erforderlich, im einzelnen erläutert oder aber zweisprachig wiedergegeben werden.
Aktualisiert: 2020-06-08
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