abgestempelt & aufgefangen
Von gefallenen Mädchen zu jungen Frauen mit Perspektiven
Yves Baer, Sergio Devecchi
140 Jahre Schweizer Frauen- und Fürsorgegeschichte
Ein neues Buch über die Geschichte der Stiftung Hirslanden und ihre Vorgängerinstitutionen seit 1874 dokumentiert über mehr als 140 Jahre gelebte und erlebte Frauen- und Fürsorgegeschichte. Ein wichtiger Beitrag zur jüngeren Schweizer Sozialgeschichte.
Seit über drei Jahrzehnten führt die Stiftung Hirslanden an der Witellikerstrasse in Zürich eine Sozialpädagogische Einrichtung für junge Frauen, die stationäre Hilfe und professionelle Unterstützung beim Erwachsenwerden benötigen. Doch diese Einrichtung ist weit älter als die Stiftung selber und unterlag Wechsel und Wandel: Vor 140 Jahren gründeten Zürcher Philanthropinnen um Mathile Erscher das vormalige Magdalenenheim als „Freies unentgeltliches Asyl für gefallene und reumütige Mädchen“. Sie schufen so den Grundstein für eine Institution, die über viele Jahrzehnte im Dienste von benachteiligten jungen Frauen tätig war und heute immer noch ist. Das Magdalenenheim betrieb eine Wäscherei und ermöglichte seinen Bewohnerinnen eine hauswirtschaftliche Ausbildung. Grund genug also, einen differenzierten Blick auf die Geschichte dieser Organisation zu werfen.
Aus Anlass ihres dreissigjährigen Bestehens erscheint diese Publikation und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur laufenden Aufarbeitung für fürsorgerische Zwangsmassnahmen und administrative Versorgungen in einem dunklen Kapitel der jüngeren Schweizer Sozialgeschichte, das zu lange verschwiegen wurde. Durch akribische Archivarbeit und Interviews mit Betroffenen und Involvierten entstand eine umfassende Dokumentation über mehr als 140 Jahre gelebte und erlebte Frauen – und Fürsorgegeschichte.
„Trägheit“, „Arbeitsscheu“, „Launenhaftigkeit“, „Boshaftigkeit“, „Diebereien“, „Trotz“, „Leichtsinn“, „Sinnllichkeit”… Mit solchen Be- und Verurteilungen wurden gefallene und reumütige Mädchen abgestempelt. Aufgefangen wurden sie in sozialpädagogischen Einrichtungen, um ihnen die vermeintlich nötige stationäre Hilfe und professionelle Unterstützung beim Erwachsenwerden zu bieten. Wie sind die Beurteilungen der eingewiesenen Mädchen aus heutiger Sicht zu deuten? Was haben sich die jungen Frauen zu Schulden kommen lassen und was veranlasste ihre administrative Versorgung in einem Erziehungsheim? Wie werden aus gefallenen und reumütigen Mädchen junge Frauen mit Perspektiven?
Entstanden ist ein Buch, das den lebendigen Alltag im Heim damals und heute spannend wiedergibt und die wechselvolle Geschichte ihrer Trägerschaft treffend einfängt. Die Publikation schildert lebendig den Heimalltag vom 19. Jahrhundert an bis heute und stellt die Ereignisse in den jeweiligen historischen Kontext. Wo nötig, würdigt sie diesen kritisch. Der Stiftungsrat Hirslanden möchte mit diesem Werk seinen Beitrag zur laufenden Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und administrativen Versorgungen leisten. Er will so mithelfen, dieses dunkle Kapitel schweizerischer Sozialgeschichte, das lange verborgen und verschwiegen gehaltenen wurde, zu erhellen.