An den Grenzen des Geistes
Jean Améry zum 100. Geburtstag
Birte Hewera, Miriam Mettler
„Der modische Faktor, der aller Aktualität innewohnt, entschleiert sich bei genauer Betrachtung als irrational“, hält Jean Améry 1971 fest. Erscheine ein bestimmter Autor zu einem bestimmten Zeitpunkt als unmodern oder inaktuell, so sage dies „über die Gültigkeit seiner Gedanken ebensowenig aus wie das Urteil, die Maximode sei schon passé, über deren ästhetischen Wert“.
Die Texte des jüdischen Schriftstellers Jean Améry, der den Holocaust überlebte, haben an Prägnanz und ästhetischem Wert seit jenen Jahren nicht verloren, da er als politischer Essayist, Romancier und philosophischer Autor weitestgehend in Vergessenheit geraten war. Der hiermit vorgestellte 1. Band der neu gegründeten Schriftenreihe „kommunikation & kultur“ versammelt Vorträge, die im November 2012 anläßlich des 100. Geburtstags von Améry auf der Tagung „An den Grenzen des Geistes“ des Instituts für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin in der Berliner Akademie der Künste gehalten wurden. Um dem Améryschen Denken möglichst umfassend gerecht zu werden, behandelten die Referenten sehr unterschiedliche Aspekte seines Werks. Diskutiert wurden Schriften Amérys, die sich dem von ihm konstatierten „Terror der Aktualität“ beugen und zu politischen Themen – vor allem zum Wiederaufleben des Antisemitismus – Stellung beziehen. Ganz im Sinne Amérys richtete sich dabei das Interesse insbesondere auf die philosophischen Implikationen – gleichsam auf das Überaktuelle seiner Erfahrung bis ins Heute! Als exemplarisch für die klarsichtige und scharfe Analyse Amérys von Theorie und Gesellschaft kann der im Anhang zum ersten Mal ungekürzt publizierte Aufsatz „Der abgeschaffte Mensch. Blick in die Welt des Strukturalismus“ gelten, die bereits 1967 als Kritik des damals gerade aufkommenden Strukturalismus entstand.