Anwendung alternativer und komplementärer Medizin während der Schwangerschaft und der Geburt – Motivationsfaktoren und Persönlichkeiten werdender Mütter
Vivien Seeger genannt Dütemeyer
Einleitung: Die Anwendung alternativer und komplementärer Medizin steigt weltweit, so auch in der Schwangerschaft, obwohl deren Effizienz, von partiellen Ausnahmen abgesehen, fraglich ist und wissenschaftliche Arbeiten über Nebenwirkungen und Fetotoxizität Lücken aufweisen. Die meisten werdenden Mütter verschweigen ihren behandelnden Ärzten oder Hebammen die selbstverordnete, eigenverantwortliche Anwendung. Diese Sachverhalte waren Anlass, tatsächliche Nutzungshäufigkeiten alternativer Medizin und Motivationsfaktoren der Schwangeren näher zu betrachten und dabei, zum ersten Mal auch die Persönlichkeit hinter den Anwenderinnen zu beleuchten, um Schwangere in diesem Zusammenhang besser verstehen, spezieller auf sie eingehen und Mutter und Kind adäquater schützen zu können.
Material und Methode: Die vorliegende Untersuchung basiert auf die Auswertung eines von 200 Schwangeren in Gießen und Umkreis von April 2010 bis Juni 2011 korrekt schriftlich ausgefüllten komplexen Fragebogen.
Ergebnisse: Alternative und komplementäre Medizin wurde von 88% der Frauen in der Schwangerschaft, v.a. zur Linderung von Übelkeit und Beschwerden, angewendet. Hierbei waren, in absteigender Reihenfolge, pflanzliche Ernährungsmittel, pflanzliche Salben und Öle sowie Homöopathie die am häufigsten verwendeten Methoden und Mittel. Während der Geburt waren sich 20% der Schwangeren sicher, „auf jeden Fall“ alternative Medizin anzuwenden und nur 7% aller Befragten lehnte diese Möglichkeit strikt ab. Geburtshilfen fanden dabei mit Abstand den größten Zuspruch. Determinanten, die mit einer vermehrten Alternativmedizinnutzung einhergingen, waren eine höhere Bildung, eine Risikoschwangerschaft und eine Teilnahme an einem Geburtsvorbereitungskurs. Ein höheres Alter, der Status als Erstgebärende, vorherige Fehlgeburten, eine frühere Alternativmedizinnutzung und eine positive Erinnerung an die vorherige Geburt konnten mit speziellen alternativen und komplementären Verfahren positiv verknüpft werden. Alternativmedizinnutzung während der Schwangerschaft ging bei werdenden Müttern mit dem Bestreben einher, dies während der Geburt ähnlich zu handhaben und auch nach der Entbindung solche Verfahren und Präparate zu nutzen. Vermehrt alternative Medizin anwendende Schwangere bemängelten, dass zu wenig auf natürliche Verfahren zurückgegriffen werde, was evtl. an der Einstellung der Ärzte liegen könnte, auch sollte der Schulmedizin nicht uneingeschränkt vertraut werden. Diese Frauen wollten auch eher auf schulmedizinisches Personal während der Geburt verzichten, da ihre Hebammen alles übernehmen könnten. Allerdings befürworteten auch viele Alternativmedizinnutzende die kombinierte Anwendung alternativ und schulmedizinischer Verfahren und einen hohen Wissensstand seitens der Hebammen und Ärzte über alternative Behandlungsmethoden, auch hätte diese Form von Medizin in ihren Familien bereits eine längere Tradition und für sinnvolle Anwendungen würden sie durchaus mehr Geld ausgeben, da sie sich alternativen Methoden wohler fühlten als mit Schulmedizin. Des Weiteren konnte aufgezeigt werden, dass Schwangere, die viel alternative Medizin anwandten, gewisse Persönlichkeitsfaktoren aufwiesen. So waren diese Frauen eher reflektierend, sensationssuchend und lebensfroh. Schwangere, die wenig alternative Medizin nutzten, wurden eher als handelnd, gefahrenmeidend und schwermütig eingestuft. All diese und weitere Persönlichkeitsausprägungen, wie ehrgeizig, sicher, ausgeglichene Emotionalität und unzuverlässig, gingen mit der Nutzung ganz spezieller unkonventioneller Verfahren einher.
Diskussion: Alternative und komplementäre Medizin wird von der Mehrzahl der Schwangeren angewandt, teilweise ohne sich dessen genau bewusst zu sein und oft mit einem mangelnden Wissen über diese Verfahren sowie dem Vertrauen auf Ratschläge von Freunden und Familie. Obwohl alternative und Schulmedizin oftmals in Kombination verwendet werden, ist ein Misstrauen gegenüber Ärzten hinsichtlich deren Einstellungen zu unkonventionellen Verfahren ersichtlich. Es besteht eine Diskrepanz zwischen den, mittlerweile in fast jedem Krankenhaus vorhandenen, alternativ-therapeutischen Möglichkeiten und dem Wissen der Schwangeren über diese Angebote. So sollten Ärzte offen auf die werdenden Mütter zugehen und diese Möglichkeiten gezielt ansprechen, um mit ihnen zusammen eine individuelle Wahl zu treffen und das Verhältnis zwischen beiden Parteien zu verbessern und damit eine optimale Versorgung und Aufklärung zu gewährleisten. Dabei ist eine Berücksichtigung der jeweiligen Charaktere hilfreich, da einige Persönlichkeitsmerkmale mit einer Alternativmedizin-nutzung positiv verknüpft sind, um eine individuell passende Beratung zu gewährleisten. Die als Ergebnis der vorliegenden Arbeit aufgezeigten Tendenzen können Grundlage weiterer Forschungen sein.