Aus den Augen
Roman
Christoph Braendle, Reinhold Genböck
Er tritt auf die Minute pünktlich ein. Heute trägt er einen braunen Mantel, wahrscheinlich aus Kaschmirwolle, dazu braune Lederschuhe und einen passenden braunen Hut. Auch sein Stock ist rotbraun, Rosenholz vielleicht oder Nuss. Er stellt sich an die Bar und trinkt seinen Cognac. Aber statt, wie gewohnt, zu bezahlen und das Lokal zu verlassen, tritt er an meinen Tisch. Fragt, ob er sich setzen dürfe. Ich nicke überrascht. Er räuspert sich, nimmt die dunkle Brille ab und schaut mir direkt in die Augen. Seine sind von einem hellen, wässerigen Blau. Die Haut, die an den Augäpfeln anliegt, ist rot und geschwollen, wie wenn er lange und heftig geweint hätte, und unter den Augen liegen schwarze Schatten. Er wirkt sehr alt, älter noch, als ich vermutete, solange er seine Brille trug. Er räuspert sich noch einmal. Ich weiß, dass Sie Künstler sind, und ich weiß, dass Sie zeichnen. Verfügen Sie über eine akademische Ausbildung?
Ja.
Öl auf Leinwand, können Sie damit umgehen?
Ja.
Wie lange gedenken Sie, in Rom zu bleiben?
Ich weiß nicht, ein paar Wochen, ein paar Monate vielleicht.
Wo leben Sie normalerweise?
In Wien.
Die Schöne an der blauen Donau.
Blau hab‘ ich die Donau noch nie gesehen.
Sie sind ferienhalber in Rom?
Nein, ich … Ich überlege, ob ich ihm erzählen soll, was mich aus Wien vertrieben hat. Lasse es bleiben. Ich bin in Rom, um die Werke der alten Meister im Original zu studieren, Giotto, Leonardo, Raffael, Michelangelo et cetera, sage ich stattdessen, ich beschäftige mich hauptsächlich mit der Darstellung der Madonna.
Ausgezeichnet, ausgezeichnet! Ich habe mir von den Kellnerinnen sagen lassen, dass Sie gerne Leute, die hier verkehren, porträtieren?
Mein Hauptwerk, erkläre ich, ist das Porträt.
Sehen Sie, sehen Sie, ich habe mich in Ihnen nicht getäuscht. Darf ich Ihnen ein Glas Weißwein offerieren, und vielleicht ein Stück Kuchen? Nein. Gut. Ich möchte Sie nämlich meiner Frau vorstellen.
Sie möchten …?
Ich möchte Sie meiner Frau vorstellen, wiederholt er leise, fast flüsternd, ich möchte, dass Sie sie malen. Nackt. Sie haben im Moment nichts Dringendes vor?
Nackt?
Ja, nackt und mehr. Ich muss wohl ein bisschen ausholen. Darf ich Sie nicht doch zu etwas einladen? Zu einem Cognac vielleicht? Oder einem Prosecco? Ein Bier vielleicht? Was immer Sie möchten. Manuela! Der Herr möchte ein …