Ausgrenzung und Herrschaft
Prekarisierung als Klassenfrage
Werner Seppmann
Innerhalb einer bemerkenswert kurzen Zeitspanne haben sich
die Sozialverhältnisse auch in den Metropolenländern dramatisch
verändert.
Auch in den ehemaligen „Wohlstandsgesellschaften“ breiten sich die
Armuts- und Bedürftigkeitszonen aus, ist ein sozialer Abwärtssog, der
immer weitere Schichten erfasst, unübersehbar geworden. Die Armutsquote
hat in der Bundesrepublik die 20 Prozentmarke erreicht und noch einmal
eine ebenso große Gruppe ist beständig vom sozialen Absturz bedroht.
Die Lebensverhältnisse sind bis weit in „mittlere“ Soziallagen hinein
von zunehmender Unsicherheit, oft auch Perspektivlosigkeit geprägt:
Wie in früheren Zeiten des Kapitalismus reicht für viele
auch ganztätige Erwerbsarbeit nicht mehr zum Lebensunterhalt.
Durch einen gravierenden Sozialabbau und einer Verrohung des „sozialen
Klimas“ wird deutlich, dass der „sozialstaatlich“ regulierte
Kapitalismus nur eine historische Ausnahme- und Übergangserscheinung
war, überwunden geglaubte Widerspruchsformen wieder realitätsprägend
geworden sind.
Im Kern ist von der neoliberalistischen Umgestaltungsoffensive die
Intensivierung der Ausbeutung, die Erhöhung des Profits und die
Stabilisierung der Mehrwertmasse intendiert: Es geht nicht um abstrakte
„Ungleichheitsfragen“, sondern um Machtpräferenzen.
Erst durch einen klassentheoretisch fundierten Blick wird deutlich,
dass durch die „Arbeitsmarktreformen“ bewirkten sozialen Entwurzelungen
die Konsequenzen einen neuen Modus sozialer Herrschaft sind. Durch
systematische Verunsicherung und soziale Rückstufung werden die
Lohnabhängigen zur Anpassung gezwungen: Kapitalistischen
Verwertungsinteressen werden mittelst Prekarität und
Abstiegsbedrohungen durchgesetzt.
Werner Seppmann (geboren 1950) hat nach Berufstätigkeit und ‚Zweitem Bildungsweg‘ Sozialwissenschaften und Philosophie studiert. Langjährige Zusammenarbeit
mit Leo Kofl er. Vorstandsmitglied der Marx-Engels-Stiftung. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Sozialstrukturanalyse, Marxismusforschung, Dialektischen Philosophie, Ideologietheorie und Ideologiekritik, zur Kritischen Gesellschaftstheorie, Klassenanalyse und Kultursoziologie.