Begehren und Aufbegehren
Das Geschlechterverhältnis bei Robert Walser
Karin Fellner
Der Schweizer Schriftsteller Robert Walser (1878–1956) wird trotz germanistischer Wiederbelebungsversuche auch heute noch als literarischer Außenseiter gehandelt. Dabei versprechen seine vagabundierenden Protagonisten und sein arabesker Stil nicht nur einen einmaligen Lesegenuss, sondern gehören längst schon zur Avantgarde postmoderner Literatur.
Die koboldartige Beweglichkeit von Walsers Figuren und Sprache prägt auch das Motiv der Liebe. Im Gegensatz zum weitgehend dichotomischen Geschlechterverständnis anderer Autoren der Jahrhundertwende verflüssigen sich bei Robert Walser die Schablonen für Männer- und Frauenbilder. In der Verweigerung traditioneller Rollenmuster wird das Begehren immer wieder auch zum Aufbegehren gegen gängige Geschlechterordnungen. Das Versagen der bürgerlichen Kleinfamilie als Produktionsort für fixierte Selbstbilder führt zu flexiblen und prekären Grenzüberschreitungen.
Da es keine Einzeluntersuchung zum Liebesdiskurs in Walsers Werk gibt, beschäftigt sich die vorliegende Arbeit in detaillierter Analyse mit seinen Konstellationen des Begehrens. Vor dem Hintergrund der Psychoanalyse Freuds und der Thesen Foucaults zur Entwicklung der bürgerlichen Sexualität werden die irritierenden Liebeskonstellationen in Robert Walsers Texten in einen größeren Zusammenhang gestellt