Das Höckerpferd
Pjotr Jerschow, Michail Schaiber-Sokolski
In Russland erzählt man sich, wie in aller Welt, seit vielen Jahrhunderten Märchen. Manche von ihnen haben überall im Lande Verbreitung gefunden, andere sind weniger populär geworden. Doch keines von ihnen hat eine solche Volkstümlichkeit erlangt, wie ein Märchen, das erst gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts entstanden ist: das ›Höckerpferd‹, ein Versmärchen des Dichters Pjotr Jerschow (1815-1869).
Jerschow war gerade sechzehn Jahre alt, als er in die russische Hauptstadt Petersburg kam, um an der Universität zu studieren. Hier machte er bald die Bekanntschaft mehrerer bedeutender Literaten, darunter auch die des größten und berühmtesten russischen Dichters, Alexander Puschkin, der um diese Zeit selbst schöne und lustige Versmärchen zu schreiben begann, die in Russland bis auf den heutigen Tag jedes Kind kennt. Als aber Jerschow in wenigen Wochen sein ›Höckerpferd‹ niederschrieb, war allen klar, dass er sogar Puschkin übertroffen hatte. Doch blieb das ›Höckerpferd‹ sein einziges so geglücktes Werk. Er schrieb später, als er sein Studium absolviert hatte und als Schulrektor nach der sibirischen Stadt Tobolsk versetzt wurde, noch viele Verse, doch blieb ihnen der Erfolg versagt. Das ›Höckerpferd‹ dagegen hat nicht nur die mehr als 150 Jahre überlebt – es wird fast jedes Jahr von den verschiedensten Verlagen aufs neue herausgegeben und ist dann in wenigen Tagen vergriffen; eine Oper und ein Ballett, die den beliebten Titel tragen, stehen ständig auf dem Spielplan vieler Musiktheater, darunter eines der größten in der Welt – des Moskauer Bolschoi, und die berühmtesten russischen Schauspieler rezitieren das Märchen immer wieder im Rundfunk.
Diese Beliebtheit erklärt sich wohl vor allem daraus, dass die Hauptfigur des Märchens ›Iwán der Tropf oder der Dummkopf‹, der gar nicht so einfältig oder dumm, sondern ganz hübsch klug und ziemlich schlau ist, einen echten russischen Volkscharakter darstellt. Natürlich einen ironisch gesehenen Volkscharakter, doch tut ja ein Schuß Selbstironie dem menschlichen Herzen und dem menschlichen Geist stets wohl. Hinzu kommt, dass der eigentliche Gegenspieler Iwáns, der Zar, nun ein wirklicher Blödling ist, und das wird von den Russen gleichsam als Racheakt gegen die despotischen Herrscher empfunden, die zu Jerschows Zeiten und oft auch später, bis in neueste Zeit hinein, das Land nicht so sehr lenkten als vielmehr unterdrückten.
Bei alldem ist aber das ›Höckerpferd‹ ein lustiges, interessantes und geistreiches Märchen, das Kinder wie Erwachsene gern aus reinem Vergnügen lesen. Dabei sollte der deutsche Leser beachten, dass der Name unseres Helden, Iwán, im Russischen auf der zweiten Silbe betont wird …