Das Ungelebte
Studie
Ulrich Schödlbauer
Die Begegnung mit dem Ungelebten kann unkalkulierbare Folgen für den Einzelnen haben. Kenne ich meine Mit- und Nebenmenschen? Eine beliebte, dabei müßige Frage, die sich am ehesten stellt, wenn man von einem plötzlich Verstorbenen eine Aufgabe erbt – in diesem Fall ein Manuskript, das danach verlangt, zum Druck befördert zu werden, aber seinen Sinn ebenso wenig preisgibt wie der Freund zu Lebzeiten seine Autorschaft. Das klingt nach einem Rätsel, aber es ist nur der Anfang einer Erkundungsreise, die dem Ungelebten im Leben, seinen Unausweichlichkeiten und produktiven Aspekten nachgeht.
Leseprobe:
„Die Schlager, die da von der Promenade heraufdonnerten, waren schlecht, sie waren lächerlich – kein Zweifel. Aber niemand war überhaupt in der Lage zu entscheiden, ob sie wirklich lächerlicher klangen als die anglophone Einheitskost, mit der die Plattenfirmen und Rundfunkanstalten den Planeten eindröhnten. Der rituelle Zirkus braucht keine Motive, er ist sich selbst genug und er funktioniert, solange er immer neue Millionenheere Verzückter aus dem Boden stampft. Die Leute, die sich hier delektierten, waren vom Veranstalter als alt und hässlich, als minderbemittelt in beiderlei Wortsinn konzipiert worden. Man hatte ihnen einen Musikgeschmack aufs Ohr gedrückt wie den Stempel einer Behörde, die Mastschweine in Güteklassen einteilt. Seltsam war das schon, denn sie unterschieden sich in nichts von den Mitmenschen, die im Bilde waren (und somit jung, schön und intelligent), man hätte meinen können, es seien dieselben Leute. Zum Beispiel zeigte sich nichts von der Verachtung, die junge Menschen für diese Art von Gedudel empfinden mussten, auf dem stark gebräunten Gesicht der Blondine dort – ich war jetzt doch aufgestanden und an die Brüstung getreten -, deren halboffener Mund eine angeklebte Illustrierten-Sinnlichkeit demonstrierte. Auch der Jüngling an ihrer Seite, ein Wuschelkopf mit seltsam blasierten Zügen, der seine Augäpfel wie zwei überteuerte Rassehunde unter strenger Kontrolle Gassi gehen ließ, ließ nichts dergleichen erkennen. Abgesehen davon, dass sich auf den meisten Gesichtern ohnehin nicht viel zeigte, was man nicht bereits wusste, wirkte vielleicht die Zugehörigkeit zu diesem Ort, zu dieser Strandszene disziplinierend, so dass man das, was man hörte, weil man nicht anders konnte, ›nicht so übel‹ fand und daraus den Vorteil zog, sich obendrein für ungemein differenziert zu halten. Wie naiv ich war. Ich wusste nichts davon, dass diese Dinge ununterbrochen und allerorten in kleinen und großen wissenschaftlichen Projekten erforscht wurden, vermutlich also auch geradewegs vor meinen Augen. Das Strandidyll trog – es handelte sich, unsichtbar für meinesgleichen, um ein gesellschaftliches Labor, in dem die ausgeklügeltsten Untersuchungen liefen, ohne dass die Folgen für die erforschte Personengruppe, von leichten Gehörschäden abgesehen, als besonders gravierend eingeschätzt werden mussten. Vielleicht befand sich jenes Pärchen dort unten, für mich ein Emblem jugendlicher Selbstadoration, inmitten einer Feldstudie und kämpfte abends mit den Tücken gedruckter Statistiken, vielleicht übte es sich in ›dichter Beschreibung‹ und hatte auch meinen Balkon längst entdeckt und mich dem Inventar der imaginären Lokalität, die unter seinen emsigen Blicken und Fingern entstand, zugeschlagen. Die Professoren, die ich kannte, waren recht einseitig ausgewählt, es fehlten, ohne dass es mir auffiel, die Sozialwissenschaftler und Psychologen.“