Das «wohltemperierte Kind»
Wie Kinderzeitschriften Kindheit form(t)en
Christoph Thoma
Sowohl Produkt einer individuellen Leistung als auch Folge geänderter gesellschaftlicher Bedingungen ist die Entstehung der Kinderzeitschrift als eigene Gattung im Zeitalter der Aufklärung. Damals entdeckte die Pädagogik die Kindheit als Phase des Einübens von (bürgerlichen) Tugenden. Durch jene neue publizistische Form wurde das traditionelle soziale Lernen um die Möglichkeit einer direkten, vermittelten Sozialisation erweitert. Der Verlust der Straße als Sozialisationsinstanz zog für das Kind den «regelmäßig auf Besuch kommenden papierenen Spielkamerad» nach sich – eben die Kinderzeitschrift. Das in ihr propagierte Kindesideal war jenes vom «wohltemperierten Kind» (einem schamhaften, sittsamen, reinlichen Etwas, das seine Triebe zu unterdrücken und seine Affekte zu regulieren weiß) – und ist es auch während ihrer nunmehr über 200 Jahre langen Gattungsgeschichte bis in unsere heutige Zeit geblieben. Wir «wohltemperierten Kinder»?