Der hinkende Vogel verfremdet den Flug
Physische Verfremdung in den Theatertexten Heiner Müllers
Ralph Fischer
Einschnitte, Wunden und ausgerissene Körperglieder, hinkende, stolpernde und stürzende Körper – motorische Devianzen, physische Defekte und Deformationen haben im Werk des Dramatikers, Lyrikers, Essayisten und Regisseurs Heiner Müller einen zentralen Stellenwert. Verwundete, geschundene und zerstückelte Körper, denen die Wund- und Narbenschrift historischer Konflikte auf die unerlöste Haut geschrieben ist, betreten mit all ihren Deformationen, Auswüchsen und Schmerzen das Licht der Szene: Müllers Theatertexte entfalten eine Szenographie des Defekts. Ralph Fischer untersucht die spezifischen Darstellungsformen von Körper und Körperlichkeit in den Müllerschen Texten, ihre physische Verfremdung. Der Bruch mit Darstellungskonventionen wird bei Müller auf eine drastisch anatomische Ebene übersetzt: ein Öffnen, Zerbrechen und Variieren von Körperstrukturen, ein Tanz von Körperfragmenten im utopischen Zwischenraum von Mensch und Maschine. Diese Ästhetik des Defekts in seinen Texten setzt nicht nur nachhaltige Impulse für die postdramatische Theaterästhetik, sondern nimmt auch großen Einfluss auf die Heranbildung der Kinetik der Devianz in Performance und zeitgenössischem Tanz.