Die Anwendung der tathagatagarbha-Lehre in Kong spruls Anleitung zur gzhan stong-Sichtweise
Martina Draszczyk
Die Lehre von der Buddha-Natur (tathāgatagarbha) als jedem Lebewesen inhärentem Element ist ein zentrales Konzept im Mahāyāna-Buddhismus. Diese Buddha-Natur als das Absolute in einem positiven Sinn darzustellen, d. h. als Gnosis mit unvorstellbaren Qualitäten, ist der Kern der sogenannten gzhan stong-Madhyamaka-Sichtweise: Der Geist selbst wird als leer von anderem (gzhan stong) verstanden, d. h. leer von den akzidentellen oder oberflächlichen Verunreinigungen, die nicht zur Natur des Geistes gehören; er wird jedoch nicht als leer von den Qualitäten des Buddha-Zustands gesehen. Dennoch sind die Lebewesen, so lange sie den Hemmnissen ihrer akzidentellen Verunreinigungen unterliegen, nicht fähig, einen direkten Bezug zu diesen ihnen innewohnenden Qualitäten herzustellen. Den entsprechenden Werken gemäß macht dies den einzigen Unterschied zu erwachten Individuen aus, die, nachdem sie die akzidentellen Verunreinigungen entfernt haben, die Buddha-Natur erkannt und daher den Zustand des Erwachtseins erlangt haben. Aus diesem Grund ist es – aus der Perspektive der tathāgatagarbha-Lehre im Allgemeinen und aus jener der gzhan stong-Sichtweise im Besonderen – das Ziel sowohl der buddhistischen Philosophie als auch jeder Art spiritueller Übung in Ethik, Sichtweise und Meditation, die akzidentellen Verunreinigungen zu beseitigen, damit sich die Buddha-Qualitäten einstellen bzw. diese von sich aus offenkundig werden können. Das Buch Die Anwendung der Tathāgatagarbha-Lehre in Kong spruls Anleitung zur gZhan stong-Sichtweise handelt von der Interpretation der Buddha-Natur im Kontext der Sichtweise und Meditation, wie sie von dem Mönchsgelehrten ’Jam mgon Kong sprul Blo gros mtha’ yas (1813-1899) gelehrt wurde. Der Einleitungsteil vermittelt den historischen Kontext Kong spruls. Darauf folgt ein Abriss zum Thema der Buddha-Natur mit ihren Quellen in Mahāyāna-Sūtren und indischen Lehrwerken. Besonderes Augenmerk liegt auf dem Ratnagotravibhāga, da dieses Werk für die Mahāmudrā-Lehren innerhalb der bKa’ brgyud pa-Tradition des tibetischen Buddhismus von besonderer Bedeutung ist. Dann geht das Buch auf die Entwicklung der gzhan stong-Sichtweise in Tibet ein. Vor diesem Hintergrund wendet sich die Aufmerksamkeit – auf der Grundlage von Kong spruls Text Die makellosen Lichtstrahlen des vajra-Mondes, eine Anleitung zur Sichtweise von gzhan stong, dem Großen Madhyamaka – ganz Kong spruls Erklärungen zur gzhan stong-Sichtweise zu. Der Fokus liegt darauf, wie Kong sprul einen buddhistischen yogin durch den Prozess der Erkenntnis führt: Die Auseinandersetzung mit der richtigen weltlichen und überweltlichen Sichtweise spielt dabei ebenso eine Rolle wie die Frage, welche Lehren des Buddha in einem hinführenden (drang don, neyārtha) und welche in einem definitiven (nītārtha, nges don) Sinn zu verstehen sind. Kong sprul empfiehlt für diese Auseinandersetzung insbesondere die Lehrmodelle des Niḥsvabhāvavāda-Madhyamaka und des Yogācāra-Madhyamaka, die für ihn gleichbedeutend mit rang stong- bzw. gzhan stong-Madhyamaka sind. Es wird dargestellt, wie gemäß Kong spruls Auffassung der auf der gzhan stong-Sichtweise beruhende spirituelle Weg letztlich in der Erkenntnis des tathāgatagarbha kulminiert. Eine kritische Edition des Textes sowie eine Übersetzung desselben ins Deutsche bilden den letzten Abschnitt des Buchs.