Die Entstehung der Governance der hybriden Organisationsform Genossenschaft
Eine empirische Untersuchung am Beispiel von Energiegenossenschaften in Deutschland
Jakob R. Müller
Die Frage nach den Ursachen für die bestehende Vielfalt an Organisationsformen ist heute ein zentraler Teil der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung und Ausgangspunkt der Transaktionskostentheorie, an welche die vorliegende Arbeit mit ihrer Fragestellung anknüpft: Wie entsteht die Governance der hybriden Organisationsform Genossenschaft? Dabei handelt es sich um eine Frage, die bislang auch deshalb unzureichend beantwortet geblieben ist, weil die transaktionskostentheoretische Forschung der genossenschaftlichen Heterogenität und deren Ursachen kaum Aufmerksamkeit gewidmet hat. Dieses Desiderat ist umso gewichtiger, als die Organisationsform der Genossenschaft für die Koordination von Transaktionen weltweit große Bedeutung besitzt. Die Organisationsform Genossenschaft weist einzigartige Merkmale auf wie die Identität von Nutzer und Eigentümer oder das one-member-one-vote Prinzip. Beide Eigenschaften verschaffen der Genossenschaft gegenwärtig neue Popularität in der gesellschaftlichen Debatte über alternative Wirtschaftsformen. Ein tieferes Verständnis der genossenschaftlichen Governance und der Ursachen ihrer vielfältigen Erscheinungsformen trägt dazu bei, die Funktionsweise und Verbreitung von Genossenschaften besser zu erklären. Die vorliegende Arbeit verfolgte daher die drei Ziele, 1. den Governance-Entstehungsprozess von Genossenschaften besser zu verstehen, 2. die Genossenschaft hinsichtlich ihrer Governance zu differenzieren und 3. Faktoren zu identifizieren, die die Entstehung der genossenschaftlichen Governance beeinflussen. Um diese Ziele zu erreichen, wurde ein anspruchsvoller Mixed-Methods-Ansatz angewendet. Zunächst konnte mittels der qualitativ-explorativen Grounded-Theory-Methode eine Gegenstandstheorie zum Prozess der Governance-Entstehung von Energiegenossenschaften entwickelt werden. Auf dieser Grundlage und unter weitergehender Berücksichtigung der einschlägigen Literatur wurde sodann ein Modell der Governance-Entstehung abgeleitet, das anhand einer großzahligen Population von Energiegenossenschaften quantitativ-empirisch getestet wurde. Im Ergebnis konnte der Governance-Entstehungsprozess als Neukontextualisierung beschrieben werden, bei dem zahlreiche Einflussfaktoren über einen in der Arbeit näher spezifizierten Wirkzusammenhang die Governance-Entstehung der Genossenschaft determinieren. Im Gegensatz zu den Aussagen der klassischen Transaktionskostentheorie stellte sich die Entstehung von Governance in der durchgeführten Untersuchung nicht als Auswahl generischer Governance-Strukturen dar, sondern vielmehr als Anpassung der Governance-Struktur an die Besonderheiten der Gründungssituation. Die Entstehung der Governance konnte daher insbesondere unter Bezugnahme auf die Notwendigkeit erklärt werden, fehlende Handlungssicherheit auszugleichen, um ausreichend Mitglieder für die beabsichtigte Transaktion zu gewinnen. Die Handlungssicherheit variiert dabei in Abhängigkeit der Ausprägung unterschiedlicher Einflussfaktoren, die sich nach der Art der Transaktion, dem Gründungskontext und dem gestaltender Akteur gliedern lassen. Die Ausprägungen dieser Einflussfaktoren sind ursächlich für die Vielfalt genossenschaftlicher Governance, die in der Arbeit anhand des für Genossenschaften zentralen Governance-Attributs der Mitgliederbindung untersucht worden ist, anhand dessen sich die Governance der Genossenschaft differenzieren lässt. Zusammenfassend tragen die Ergebnisse dieser Arbeit zur Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie bei, indem die Entstehung der Governance nicht pauschal auf Verhaltensannahmen und daraus resultierende Transaktionskosten zurückgeführt wird, sondern ein Modell entwickelt wird, in dessen Mittelpunkt ein komplexer Ausgleich von Handlungssicherheit steht, um Transaktionspartner zu überzeugen, in eine Transaktion einzuwilligen.