Eiderstedt
Ein Lesebuch
Rolf Kuschert
„Ick kann Jüm gor nich seggen, wo dull ick mi doröver freu, dat wi hüüt na Eiderstedt fohrt! Dat gifft warrafdig keen Eck, de schöner is. Dat mutt uck en Minsch seggen, de al de ganze Welt bereist hett! Anners lüggt he! Oder he hett keen Geschmack! Meisto tein Johr heff ick je ümmer mit veel Minschen tosamenleevt, un dat is knapp vorkamen, dat dor mal een ut Noorddüütschland mang weer. Dorüm heff ick denn ümmer fix vun Eiderstedt verteilt: Wo fein dat dor utseeg, wat dor för gude Minschen wähnen, un wat dor för fette Ossen rumlepen.“
Diese noch recht junge Liebeserklärung an die Landschaft Eiderstedt, an die Halbinsel zwischen Hever und Eider, schließt sich an eine lange Reihe von ähnlichen mündlichen und schriftlichen Bekundungen an. Seit mehr als drei Jahrhunderten haben sich immer wieder Menschen über dieses Land und über seine Bewohner geäußert. Ihre Blickwinkel waren verschieden, die bevorzugten Gegenstände ihres Interesses waren unterschiedlich, doch alle waren eins in der Einsicht oder in dem Gefühl, daß Eiderstedt „ein vorzüglich merkwürdiger Teil des Herzogtums Schleswig“ oder auch „nach dem Garten Eden das schönste Stück auf Gottes Erdboden“ sei. Ob sie nun im Land geboren waren oder sind – wie der eingangs zitierte „Tönner Jung“ Heinz Martin – oder ob sie aus beruflichen Gründen nach Eiderstedt verschlagen worden waren wie Friedrich Carl Volckmar oder ob sie als neugierige Reisende kamen, sich umsahen und wieder gingen wie Johann Georg Kohl: Alle waren sie so berührt, daß sie ihr Zeugnis über Land und Leute zu Papier bringen mußten.
Unsere Auswahl von Texten versucht nun, aus den vielfachen Darlegungen ein Bild von Eiderstedt zu zeichnen, ein buntes Bild. Anders kann es bei der Vielzahl von Schreibern, von Interessen und Meinungen nicht sein. Und trotzdem wird der aufmerksame Leser auch manche Übereinstimmung feststellen, gleich, ob er etwas in der sachlich-nüchternen Sprache des Chronisten oder in der dichterischen Sprache der Schriftstellerinnen aus der Zeit von 1900 geschildert findet.
Zur Sprache ist anzumerken: Eiderstedts Sprache ist in den Jahrhunderten, aus denen unsere Texte stammen, das Niederdeutsche. Niederdeutsch sind die ersten hier im Lande aufgezeichneten Gesetzestexte, und Plattdeutsch ist im Umgang der im Lande Geborenen auch heute noch lebendig. An einem Menschenkind wie Ingeborg Andresen mag zu erkennen sein, wie selbstverständlich man in Eiderstedt mit und in beiden Sprachen, dem Hoch- und dem Plattdeutschen, aufwachsen, denken, leben und schreiben kann.
Wenn wir von der „Landschaft“ Eiderstedt handeln, muß uns klar sein, daß dieser Begriff nicht nur eine geographische Bedeutung hat. Eiderstedt – oder in älteren Tagen: die Dreilande Eiderstedt, Everschop und Utholm – bilden auch im verfassungsrechtlichen Sinne eine Landschaft. Vergleichbar sind in Schleswig-Holstein etwa Stapelholm, Nordstrand, Dithmarschen oder auch Fehmarn. Die Bewohner einer Landschaft hatten ihre besonderen Freiheiten und unterschieden sich so von ihren Nachbarn in den „Ämtern“. Als Freie und Unabhängige konnten sie – wenngleich unter der Oberhoheit eines Landesherrn in Kopenhagen, dann auf Gottorf und später wieder in Kopenhagen, schließlich in Berlin – die innere Ordnung ihres Gemeinwesens in eigener Verantwortung gestalten. Was sie geschaffen haben und wie sie es durch die Jahrhunderte hindurch bewahren konnten, das hat die Menschen in den Dreilanden mit Stolz erfüllt und ihr Selbstbewußtsein ausgeprägt, das hat aber auch immer wieder Achtung und Würdigung von außen erfahren. Trotzdem enthalten die Blätter, die Männer und Frauen dem Lande und seinen Menschen gewidmet haben, nicht eitel Lobpreisungen. Sie haben sich auch kritisch mit ihnen auseinandergesetzt. So findet es sich durchaus, daß ein in Garding amtierender Propst und – eine Generation später – eine Dichterin aus Koldenbüttel beide in ihrer Sprache gleiche kritische Gedanken äußern.
Und noch eines ist zu bedenken: Die Eiderstedter haben in einer ertragreichen, schönen Landschaft in Freiheit und in geordneten Verhältnissen leben können, aber sie haben auch ihre Sorgen und Nöte bis hin zur Gefährdung ihrer Existenz zu meistern gehabt. Kriege – von außen in das Land getragen oder auch hier entfacht – und Sturmflut-Katastrophen von unvorstellbarem Ausmaß haben immer wieder Besitz und Leib und Leben bedroht. Stärke wie Schwäche der Menschen ist in den Gefährdungen sichtbar geworden, und so muß dann doch wohl die Vorstellung vom Garten Eden berichtigt werden – zumindest werden wir Eiderstedt ein Eden nach dem Sündenfall nennen müssen!