Elisabeth de Meuron von Tscharner (1882-1980)
Der Wunsch der Löwin zu fliegen
Karoline Arn
Als Berner Original ist sie in die Geschichte eingegangen, Anekdoten und träfe Sprüche werden ihr zugeschrieben, die schwarzen Kleider, grossen Hüte, das verbeulte Hörrohr und ihre weissen Windhunde bleiben in Erinnerung. Ihr Auftritt jedoch – eine grosse, gelungene Maskerade – und ihre Erscheinung sind nur auf den ersten Blick schwarz-weiss.Der Versuch, Elisabeth de Meuron in Worte zu fassen, sie weg vom Klischee zu führen, hin zur Person, die mit ihrem scharfen Blick einen Horizont erfasste, in dem alles möglich und sichtbar war, ist fast so unmöglich wie spannend. Diese ihre Weitsicht öffnete Widersprüche – und Abgründe, die ihr zum Lebensantrieb wurden. In ihren Briefen schreibt sie jede Nacht ihre Gedanken und Gefühle auf, direkt und ungestüm, engste Freunde und Verwandte stehen dabei für Momente in ihrer Nähe: Einen furchtsamen Blick will ich versuchen auf mein Schicksal, das ich hinter meiner Mauer des Schweigens verbergen muss, damit niemand daran rühren kann. Und versuche es auszuhalten, allein zu sein gegenüber Dingen, die von jeher zu gross waren. Mein Leben mit all meinen ererbten Eigenschaften und meiner Geistes- oder Gefühlsbeschaffenheit, meiner eingeschriebenen Gebrauchsanweisung, die nicht zu verwirklichen war.Intelligent, talentiert, energisch, aufbrausend verbringt Elisabeth ihre Jugend in Bern in einer patrizischen Familie, die den alten Zeiten nachlebt. Und fast ein Jahrhundert lang stellt sie sich dem Widerspruch zwischen Aufbruch und Tradition – in der Politik des Ersten und Zweiten Weltkriegs, in der Gesellschaft, aber auch in der Liebe. Sie gibt sich nie zufrieden und nie geschlagen. Das Wappen der von Tscharner, der Greif – halb Löwe, halb Adler –, dieser Stempel, haftet nicht nur auf den Briefbögen, sondern auch an ihr. Avec les ailes sans savoir voler.Hunderte von Briefen sind zusammengekommen. An Handwerker, Freundinnen und Freunde, Verwandte oder Politiker. Ausschnitte daraus zeigen Sprachwitz und die ernste wie humorvolle Auseinandersetzung mit allen Fragen des Lebens. Sie sind eingebettet ins Erzählen der Enkelin über ihre Grossmutter. Die Erinnerungen vieler Menschen, welche einen Teil ihres Lebens «Madame de» begleitet haben, ergänzen das Puzzle aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln. Diese Spuren werden literarisch zu einem Roman verwoben.