ExMotio
Erzählung
Margit Heider
Vor einigen Jahren war ich von einer Lehrerin eingeladen worden, Schüler einer Förderschule bei einer Projektwoche im Flamencotanz zu unterrichten. Nie hat mir ein Flamencounterricht mehr Freude gemacht! Ich war fasziniert und bewegt, ganz besonders von einem 13jährigen Jungen mit Asperger Syndrom. In den Folgemonaten recherchierte ich intensiv zu dieser Form des Autismus und kam dabei in Kontakt mit einem erwachsenen Mann mit Asperger Syndrom, der mir tiefe Einblicke in sein Denken und Empfinden gewährt hat.
Von ihm habe ich gelernt: Wir leben in unterschiedlichen Welten. Daran ist nichts zu ändern, denn unsere Gehirne sind anders aufgebaut. Es ist, als trenne uns eine unsichtbare Glaswand. Das Maximale, was wir erreichen können ist, beide bis ganz nah an diese Wand zu kommen (langsam, damit es keine blutigen Nasen gibt), vielleicht die Hände daran zu legen, hinüberzuschauen und zu bestaunen, was wir sehen.
Es gibt im Spanischen ein Sprichwort: No pidas al olmo la pera, pues no la tiene. Direkt übersetzt: Verlange von der Ulme keine Birne, denn sie hat keine.
Bei mir am Haus steht eine Goldulme. In der Sonne leuchten ihre Blätter goldgelb, sie ist hier weit und breit der schönste Baum. (Mein Nachbar hat Birnen im Garten und freut sich ungefähr so sehr darüber wie ich mich über die herrlichen Blätter der Ulme.)
Menschen mit Asperger Syndrom haben Stärken und Begabungen, von denen wir anderen, wir „neurologisch Typischen“, nur träumen können. Und umgekehrt.
Der Mann mit Asperger Syndrom, den ich erwähnt habe, will ungenannt bleiben. Er sagt, er müsse Masken tragen, weil er fürchte, gesellschaftlich oder beruflich Schaden zu nehmen, wenn bekannt wäre, dass er eine Form von Autismus hat. Dieser Mann trägt mit enormem Wissen zur Weiterentwicklung einer bestimmten Branche bei, von der wir alle sehr profitieren.
Stellen Sie sich vor, die Verhältnisse wären umgekehrt und sie kämen, so wie Sie sind, auf der anderen Seite der Glaswand zur Welt und hießen Anna…