Fremderfahrung als Selbstreflexion
Goethes «Die Leiden des jungen Werther» in China (1922 – 2016)
Mu Gu
Mit seinem Frühwerk Die Leiden des jungen Werther macht sich Goethe nicht nur unter den chinesischen Gelehrten, sondern auch bei einer breiten Leserschaft einen Namen. Gleich die erste Übersetzung des Werther wurde 1922 mit großer Begeisterung aufgenommen. Mit über zweihundert verschiedenen Ausgaben (auf dem Festland, in Hongkong und Taiwan) ist es auch heute noch das am meisten übersetzte Werk unter allen Romanen und Erzählungen Goethes.
Ausgehend von einem funktionsorientierten Ansatz der Übersetzungstheorie wird in dieser Studie die Rezeptionsgeschichte von chinesischen Werther-Übersetzungen in den letzten hundert Jahren untersucht. Dabei wird festgestellt, dass dieses Werk immer wieder von den gesellschaftlichen Umständen einer bestimmten Zeit beeinflusst und dass es von verschiedenen Lesern zu verschiedenen Zeiten auf sehr unterschiedliche Weise wahrgenommen bzw. bewusst an bestimmte Situationen angepasst wird. Das Werther-Bild wirkt in diesem Sinne wie ein Spiegel für China, denn in ihm sieht man nicht nur einen sich immer wieder verändernden Werther, sondern auch die vielfältigen Veränderungen der chinesischen Gesellschaft in den letzten hundert Jahren schlechthin.