Gaziantep
Reiseerzählung
Ines Hiller
Johanna hat sich verliebt. In Selim.
Selim ist ein vor zwei Jahren aus dem ländlichen Anatolien nach Deutschland emigrierter Jugendlicher.
Johannas Familie und Freunde sind – nun ja – ziemlich entsetzt, als sie ihn kennenlernen: kunststoff-glänzende „Bomberjacke“, Bart, Metallkappen auf den Schuhspitzen. Sprachlos. Bis auf schönn und bittä. Johannas Mutter Marie befürchtet, dass Johanna für eine Aufenthaltsgenehmigung über den Tisch gezogen wird, als sie den Knaben heiratet.
Jahre später ist Selim mit Unterstützung durch Johanna und ihrer Familie die Integration in die für ihn fremde Welt tatsächlich gelungen.
Maries Versuche, Integration jenseits von staatlichen Subventionen mit muslimischen und deutschen Frauen zu organisieren, waren dagegen kläglich gescheitert. Eines Tages macht sich Marie zusammen mit Tochter, Schwiegersohn und Enkel auf die Reise in die Heimat des Schwiegersohns, um Selims Familie kennen zu lernen. Sie fährt an die kilikische Küste, in die Universitätsstadt Gaziantep, in die nur einen Steinwurf von Syrien entfernte Stadt Kilis, zur muslimischen Wallfahrtstätte Sanliurfa – im Mittelalter christlicher Stadtstaat Edessa-. Hellenistischen Mosaiken, osmanische Architektur, orientalische Handwerkskunst, überhaupt die vielen Überbleibsel der wechselvollen Geschichte des Landes bewundert sie. Die Menschen, denen sie begegnet sind freundlich und hilfsbereit. Unerwartet verliebt sie sich in den eindrucksvollen Arzt und Kunstmäzen Manu.
Sie begegnet aber auch einer sie verwirrenden Religiosität und bildungsfernen Rückständigkeit in der bäuerlichen Familie des Schwiegersohns. Aber nicht nur dort. Eine Ausreise nach Europa scheint das wichtigste Anliegen vieler, insbesondere der jungen Männer ohne Berufsausbildung zu sein. Das angestrebte Ziel ist die Ehe mit einer Europäerin zum Erwerb einer Aufenthaltsgenehmigung.