Gerhart Hauptmanns ‚Der Narr in Christo Emanuel Quint‘
Eine religions- und gesellschaftskritische Romananalyse
Waltraud Wende
Bezieht man den ‚Narr in Christo Emanuel Quint‘ auf das literarische Gesamtwerk des Autors, so zeigt sich, daß sich der Roman aufgrund seiner spezifischen Strukturmerkmale reibungslos in die bei Gerhart Hauptmann von Anfang an vorhandene spannungsreiche Mischung von Realität und Imagination, Wirklichkeit und Phantasmagorie einfügt. Das persönliche Interesse des Autors an gesellschaftlichen, metaphysischen und pathologischen Fragestellungen markiert den biographischen Hintergrund, der es Hauptmann ermöglicht, zugleich einen realistischen und utopischen, einen sozialkritischen und psychologischen Roman zu schreiben. Mit der vorliegenden Analyse des Werkes soll gezeigt werden, daß die spezifische Faszination des Romans mit seiner auf nicht eindeutige Dekodierbarkeit angelegten Vieldimensionalität korreliert. Während andere Autoren der Jahrhundertwende den biblischen Jesus Christus selbst als Romanhelden auftreten lassen, so daß ihre Werke als reine Phantasieprodukte empfunden werden, gelingt es Hauptmann, den Charakter seines Titelhelden auf einer zwischen krankhafter Pathologie und menschlicher Größe schillernden Ebene anzusiedeln. Der ‚Quint‘-Roman ist jedoch weitaus mehr als die literarische Biographie eines religiösen Individualisten: Der ‚Narr in Christo‘ trifft im Verlauf der Handlung mit Repräsentanten unterschiedlichster Gesellschaftsschichten zusammen, wodurch der ideologisch-weltanschauliche Zeitgeist und die gesellschaftlich-politische Situation der Jahrhundertwende eingefangen und über die Konfrontation mit dem Romanhelden kritisiert werden können.