Gradiva. Wahrhafte Dichtung und wahnhafte Deutung.
Der vollständige Briefwechsel von Wilhelm Jensen und Sigmund Freud, Erläuterungen zu Jensens Novelle 'Gradiva' und ihrer Interpretation durch Freud, Jensens Lebenswirklichkeit, einige seiner Gedichte - darunter sein Spottgedicht auf Freuds Deutung - und der illustrierte Gesamttext der 'Gradiva' (unter Einbezug der Erstveröffentlichung von 1902).
Klaus Schlagmann
1902 erscheint die Novelle „Gradiva“ von Wilhelm Jensen (1837-1911). Darin ist Norbert Hanold, ein junger Archäologe, fasziniert vom antiken Reliefbild einer jungen Frau. Er benennt die Figur „Gradiva“ – „die Vorschreitende“. Im Traum erlebt er, wie die Gradiva beim Ausbruch des Vesuvs in Pompeji im Jahr
79 stirbt. Bei einer Forschungsreise dorthin glaubt er, dem Geist der Verstorbenen zu begegnen. Zwei Tage lang bleibt er von dieser Idee beseelt, bis sich eine überraschende Auflösung ergibt.
Diese Novelle wird Gegenstand von Sigmund Freuds umfangreichster Literaturbesprechung: „Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva’“ (1907). Jensen beginnt im Mai 1907 eine kurze Korrespondenz mit Freud. Es kommt zu jeweils drei Schreiben auf beiden Seiten. Jensens Briefe sind seit 1929 publiziert. Freuds Briefe werden erstmals hier veröffentlicht.
Freud spekuliert aufgrund der Novelle über Jensens Lebenswirklichkeit. In der Abhandlung selbst bleibt er noch sehr unkonkret, behauptet nur, dass es um Verdrängung von etwas Anstößigem gehe. Noch ein halbes Jahr nach Erscheinen der Abhandlung spinnt Freud seine Mutmaßungen fort. Dann bringt ihn C.G. Jung auf eine Spur: Jensen sei wohl in eine Schwester verliebt gewesen. Freud geht nun noch weiter: Die Schwester war wohl noch dazu mit einem Spitzfuß körperlich behindert. In seinem dritten Brief ringt Freud um eine Bestätigung dieser Hypothese durch den Dichter. Doch dessen freundliche und wahrheitsgemäße Auskunft offenbart, wie grandios sich Freud und Jung geirrt hatten: Jensen war – ohne jeglichen Kontakt zu Verwandten – von einer kinderlosen Pflegemutter großgezogen worden. Freud reagiert beleidigt, weil sich seine kühne Deutung als so offensichtlich unsinnig erweist. Er behauptet öffentlich, Jensen habe die Mitwirkung bei der Deutung der Novelle versagt. Dabei legen meine Recherchen zu Jensens biografischem Hintergrund nahe, dass er – präzise und bewusst – reale Erfahrungen, die er Freud bereitwillig mitteilt, in seine Texte einfließen lässt. Er möchte mit seinem Schreiben offenbar geliebten Menschen eine lebendige Erinnerung bewahren. Nach dem Tod des zuletzt in Prien bzw. München lebenden Wilhelm Jensen haben seine Angehörigen – wohl mit Bedacht – von dem Münchner Bildhauer Bernhard Bleker einen Grabstein gestalten lassen, der sowohl dem antiken Gradiva-Relief, als auch der dazugehörigen Novelle – und damit also Jensens Lebensthema – eine gelungene Referenz erweist. Das Grab befindet sich auf der Fraueninsel (Chiemsee), auf der Jensen seine Gattin Marie kennengelernt hatte. Als Vorlage für den Grabstein diente das „Grabmal des Jägers“ aus Münchens Glyptothek.
Freuds „Gradiva“-Abhandlung zeigt mustergültig die Problematik seines Ansatzes. Geradezu wahnhaft versucht er, der Wirklichkeit seine Deutung aufzudrängen. Oft genug wird er nicht bestätigt – und er reagiert gekränkt und rechthaberisch. Weitere Belege für diesen markanten Zug im Wesen Freuds zitiere ich im Anhang. Abgedruckt werden hier auch Gedichte Jensens mit Bezügen zur Thematik der „Gradiva“, unter anderem ein Spottgedicht auf Freuds Abhandlung. Auch Jensens „Gradiva“ selbst ist hier abgedruckt – auf der Grundlage der Ausgabe von 1902 und mit einer Illustrierung der drei Träume Norbert Hanolds.