Ich will heim – Von Angesicht zu Angesicht
Brigitte Simon
Vorwort aus der Fluchtgeschichte von Barbara:
Diese wahre Geschichte handelt von einer Zeit, die lange vergangen ist. Ich berichte Euch aus den Jahren 1944 und 1945, als Barbara noch nicht ganz zehn Jahre alt war. Sie lebte in der kleinen Stadt Goldberg in Schlesien. Heute gehört Schlesien zu Polen und Goldberg heißt jetzt Zlotoryja. Während ich Barbaras Geschichte nacherzähle, schreiben wir das Jahr 2017. Es ist also 72 Jahre her und Barbara hat 2015 Jahr ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert. Barbara ist meine Schwägerin und Schwester meines Mannes Hubert, der in dieser Geschichte noch ein kleiner Junge ist.
Der Zweite Weltkrieg ging seinem Ende entgegen. Stellt Euch mal eine Welt vor, als nur ganz wenige Leute ein Telefon besaßen. Keine Computer, keine Smartphones, keine Tablets oder noch viel modernere Geräte, mit denen man heute rund um den Erdball mit jedem gewünschten Partner in Sekundenschnelle Verbindung aufnehmen kann. Damals musste man ein Ferngespräch noch bei der Post anmelden und dann oftmals sehr lange warten, bis man telefonieren konnte. Wenn man jemanden ganz dringend erreichen musste, dann hat man bei der Post ein Telegramm aufgegeben. Da wurde von der einen Poststelle so eine uralte Art von E-Mail geschrieben und an die andere Poststelle weitergeleitet, die der Telegrammbote dann zum Empfänger ins Haus brachte, sogar mitten in der Nacht.
Die Flugzeuge hatten noch Propeller und keine Düsen. Bei einem Amerika-Flug mussten die Flugzeuge zwei- oder dreimal zwischenlanden und nachtanken; der Flug dauerte fast zwei Tage. Autos waren selten und wenn mal irgendwo ein schönes Auto parkte, standen viele Kinder darum herum und staunten.
Fotografieren war wesentlich umständlicher. Man brauchte eine Kamera, in die eine Filmkassette eingelegt werden musste. Wenn man eine bestimmte Anzahl Fotos gemacht hatte, wurde der Film in einer kleinen Dose zu einem Fotografen transportiert. Der hat sie dann „entwickelt“, das heißt, er hat Bilder daraus gemacht. Die waren alle noch in schwarz-weiß, oder braun-weiß. Sicher hast Du schon mal so alte Fotos gesehen mit einer Uroma oder einem Ururopa als junge Leute, oder wo der Uropa ein Baby war. Deshalb sind auch die Bilder in Barbaras Geschichte in Schwarz-Weiß.
Nur wenige normale Wohnungen hatten ein Badezimmer mit Klo. Alle Familien im Haus benutzten ein einziges Klo im Treppenhaus. In den meisten Häusern in Goldberg wohnten zwei bis drei Familien. Gewaschen hat man sich in einer Waschschüssel, mit Waschlappen. Samstags war Badetag. In der Waschküche wurde dann warmes Wasser in eine große Zinkwanne gefüllt. Der Sauberste durfte zuerst baden, dann die anderen. Fernseher und Geschirrspüler gab es noch nicht. Waschmaschinen und Kühlschränke sahen ganz anders und viel einfacher aus als heute und waren in normalen Haushalten nicht üblich.
Spielsachen für die Kinder waren oft selbst gemacht. Bauklötze, Puppenstuben und Kartenspiele waren für drinnen; Fangen, Verstecken, Seilspringen, Bäume klettern, Höhlen graben, Zehner-Ball waren die beliebtesten Spiele draußen. Kettcars, Bobbycars und ähnliches waren noch nicht erfunden, aber wer einen Leiterwagen zuhause hatte, war fein heraus. Damit konnte man Dinge transportieren … oder auch Spielkameraden. Abends hörte die ganze Familie Radio und spielte Brett- oder Kartenspiele, machte Handarbeiten oder las Bücher.
Wenn Ihr jetzt also die Geschichte lest, dann überlegt mal, was Ihr gespielt hättet und was Ihr den ganzen Tag gemacht hättet, ohne Computer oder Smartphones und Games – und was ganz anders war als heute.
Aus dem Vorwort der Fluchtgeschichte von Sarmad und Bast’m:
Da sitzen sie nun vor mir: zwei sechzehnjährige Jungen – der eine, ein bisschen stämmig, mit offenem freundlichem Blick, bereit jederzeit zu lächeln – der andere von schmaler Statur, etwas schüchtern und zurückhaltend, aber gleichzeitig bemüht, einen guten Eindruck zu machen. Ein vorwitziges Oberlippenbärtchen verleiht seinem Gesicht eine Ahnung von Männlichkeit. Beide sind sorgfältig gekleidet. Sie schauen sich interessiert um. Vermutlich waren sie bisher noch nicht in einem deutschen Haushalt zu Besuch. Erfreut nehme ich zur Kenntnis, dass sie keine Scheu vor unserem Hund haben.
Begleitet werden sie von meinem syrischen Bekannten, dem Deutschlehrer Azad. Er unterrichtet neu angekommene Flüchtlinge in der deutschen Sprache und ist heute unser Dolmetscher. Azad hat die beiden jungen Männer für mich gefunden. Er sagt, die beiden Jungen seien bereit, mir von ihrer Flucht zu erzählen. Sie freuen sich, dass sich jemand für sie und ihre Geschichte interessiert.
Drei Menschen, drei Schicksale – Azad aus Syrien, Sarmad und Bast´m aus dem Nord-Irak. Sie sind Kurden und gehören dem jesidischen Glauben an.
Mein Angebot für Tee, Saft oder Wasser wird erst höflich abgelehnt. Schließlich bestehe ich auf Bewirtung und darf Tee für Azad und mich ausschenken, Orangensaft für die beiden anderen. Das Tablett mit Marzipan-Muffins wird erst nach mehrmaligem Anbieten um jeweils einen Muffin erleichtert, mir scheint – mit etwas Skepsis. Die kleinen Schokoladentäfelchen hingegen sind unverdächtig.
Ich stelle mich vor und erzähle etwas aus meinem Leben und von meinen Beweggründen – warum ich in meinem Buch, das von „Flucht damals und heute“ handeln wird, auch über sie und ihre Geschichte schreiben will.
Sarmad kann sich schon recht gut verständigen. Er ist seit 18 Monaten in Deutschland und geht zur deutschen Schule. Bast´m ist seit sechs Monaten hier und wird nach den Sommerferien mit einer Schule beginnen, in der er erst Deutsch lernt, bis er in die normale Schule wechseln kann. Beide kamen als „Unbegleitete Minderjährige“ hier in Deutschland an.
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