Im Zeichen des Zweifel(n)s. Madame Realism
Die Funktion der Fiktion in der Kunstkritik
Isabel Mehl
Madame Realism ist eine Figur, die von der US-amerikanischen Schriftstellerin und Kulturkritikerin Lynne Tillman (*1947 in Woodmere, Long Island) erschaffen wurde. Seit dem ersten öffentlichen Auftritt dieser fiktiven Kunstkritikerin 1986 in der Zeitschrift Art in America, erschienen 17 Texte. Als Protagonistin der Geschichten driftet Madame Realism zwischen Fakt und Fiktion, zwischen New York und Umwelt, ihrer Wohnung im East Village und der sie umgebenden Großstadt, zwischen Kunstwerken und Kontexten, Gesellschaft und ihren Randgebieten, Repräsentation und dem Nicht-Repräsentierten. Sie ist eine Agentin des Zweifels, der stetigen Bewegung zwischen möglichen Standpunkten. An ihrem Beispiel wird nachvollzogen wie sich in diesem Drift zwischen kritischem und erzählerischem Anspruch ein besonderes Potenzial für die Annäherung an den Gegenstand der Kritik, Kunst, entwickeln lässt. Welche Funktion übernimmt diese Figur für das kritische Anliegen von Tillman? Welche Rolle spielt die Kunst für Madame Realisms Unternehmung? Ihre kritische Auseinandersetzung mit der Kunst und der Welt entfaltet sich im Leseakt in der Imagination der Rezipient*in, die eine Fährte zu einer Sichtweise legt, dank der wir die Realität, die wir sehen und erfahren, als gestaltet und somit auch als veränderbar wahrnehmen können. In dieser Verquickung von Kritik und Imagination liegt Madame Realisms gegenwärtige Relevanz. Sie macht die Komplexität des Lebens und der Kunst erfahrbar, ohne uns etwas erklären zu wollen, weshalb ihre Erzählungen auch nie so wirken, als würde sie damit einen didaktischen Ansatz verfolgen. Eine Zweiflerin wie Madame Realism können wir immer, und auch gerade jetzt, gut gebrauchen.