»Komm, fremder Mensch!«
Gottfried Kellers Kleider machen Leute nacherzählt in biblischen Bildern
Winfried Rösler
Dass Kleider Leute machen ist sattsam bekannt. Nicht nur wegen Gottfried Kellers Geschichte, sondern auch
so. Aber wegen jener besonders. Deshalb erfreut sie sich eines großen Zuspruchs, weil sie das verständlich Bekannte
nochmals bekannt und verständlich macht.
Das ist vielleicht zu viel des Guten und weniger gut für die Geschichte. Bloß glänzende Fassade ist sie keinesfalls,
sondern vielschichtiges Sprachkunstwerk. Mit vielen Bildern versehen, die biblisch, märchenhaft und auch
theaterträchtig anmuten. Versteckt oftmals im Handlungsgang des Geschehens, das umso sorgsamer nachzuerzählen
ist.
Deckt man sie auf, die Bilder, entbirgt die Geschichte gleichsam eine zweite dazu. Eine ganz alte und eine fast
neue. Eine Komödie und fast eine Tragödie. Eine wunderliche und eine fast unerbittliche. Eine himmlische und
eine fast höllische. Eine mit Aufblühen und eine mit Erstarrung. Eine über das Fremd-Sein und übers Fremd-
Bleiben. Eine, mit einem Fremden am Anfang und am Schluss.
Fremdsein ist die Nabe, um die das Rad sich hier dreht. »Komm, fremder Mensch.« Vielleicht ist das der Kernsatz einer Geschichte, für die Kleider,
Mäntel und Pelzmützen nur Beiwerk. Denn ungeachtet dessen, welche Kleider auch geschneidert, die Figuren kommen aus ihrer Haut nicht heraus.