Kretinismus und Blödsinn
Zur fachlich-wissenschaftlichen Entdeckung und Konstruktion von Phänomenen der geistig-mentalen Auffälligkeit zwischen 1780 und 1900 und deren Bedeutung für Fragen der Erziehung und Behandlung
Johannes Gstach
Die bisherige heilpädagogische Historiographie ist v.a. eine Geschichte der heilpädagogischen Institutionen. Dies betrifft auch die Geschichte der Entstehung der Anstalten für ›Menschen mit Idiotie und Kretinismus‹, was erstaunt, da die praktische Behandlung und Erziehung eine theoretische Durchdringung dieser Phänomene voraussetzte und spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine intensive Diskussion zu diesen Phänomenen existierte, die dann in die Gründung der ersten heilpädagogischen Anstalten für diese Menschen sowie in die weiteren fachlichen Diskussionen des in Entstehung begriffenen Faches der Heilpädagogik einflossen. Der Autor versucht, diesen Entwicklungsprozess unter vier Perspektiven genauer in den Blick zu nehmen:
– Wie entwickelte sich die Beschreibung der ›Phänomenologie‹ dieser Auffälligkeiten?
– Wie entwickelte sich parallel dazu die ›Terminologie‹?
– Welche anthropologischen Erklärungsmodelle wurden verwendet?
– Welche behandlungstechnischen Fragestellungen resultierten daraus?
Das vorliegende Buch soll einerseits eine ideengeschichtliche Ergänzung der bisherigen heilpädagogischen Historiographie darstellen, indem es andererseits die intensivere Beschäftigung mit dem historischen Quellenmaterial anregen möchte, um auf diese Weise zu einer fundierten Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des heutigen Faches der Heilpädagogik zu gelangen, dessen fachliches Selbstverständnis sich
teilweise deutlich von jenem des 19. Jahrhunderts unterscheidet.