Krisen der Realität
Karen van den Berg, Ulrich Busch, Adrian Daub, Wladislaw Hedeler, Eva Illouz, Wolf-Dietrich Junghanns, Athanasios Karafillidis, Maren Lehmann, Armin Nassehi, Michael Opitz, Birger P. Priddat, Jörg Roesler, Jan Söffner, Christiane Voss, Loïc Wacquant
Die Realität ist zum Zankapfel geworden. Die Streitereien darüber, was wirklich ist, werden heute nicht (oder nicht primär) in der Philosophie oder den Naturwissenschaften ausgetragen, sondern spielen sich auf verschiedenen öffentlichen Bühnen ab. Streitpunkt sind nicht Zweifel an der Existenz der Welt oder Fragen, die das Wesen der Wirklichkeit und deren Erkenntnis betreffen. In Zeiten „postfaktischer Politik“ ist der Streit zuallererst rhetorischer Natur. Die Realität ist ein Argument in aktuellen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen, deren Kontrahenten sich gegenseitig Realitätsverlust, -verweigerung, -blindheit, -flucht, -verzerrung u.a.m. vorwerfen. Der jeweilige Gegner lebt demnach in einer Scheinwelt, gibt sich Illusionen hin, ist uneinsichtig, manipuliert oder lügt; man selbst hingegen hat den Durchblick, spricht Klartext und verfolgt nur lautere Zwecke. Die Realität, die man dabei in Anspruch nimmt, ist nicht eine Realität unter anderen, sondern die Realität im Singular – eine eindeutige, feststehende Sache.
Die Suche nach Eindeutigkeit kann man als Reaktionen auf die Vertrauenskrisen verstehen, in die demokratische Politik, Massenmedien, Religion oder Wissenschaft geraten sind. Die acht Beiträge des Themenschwerpunkts Krisen der Realität gehen auf diese aktuellen Entwicklungen ein und zugleich über sie hinaus, indem sie sie in größere geistes- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge einordnen. Aus unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Perspektiven beleuchten die Autorinnen und Autoren Wendepunkte, an denen dominante Wirklichkeitsverständnisse hinterfragt und überwunden wurden. Sie problematisieren vereindeutigende und vereinfachende Sichtweisen auf das, was wir jeweils Realität nennen, und zeigen Alternativen hierzu auf. In ihrer Einleitung stellen Karen van den Berg und Jan Söffner die einzelnen Artikel vor und erläutern, wieso es an der Zeit ist, über Neufassungen des Realitätsbegriffs nachzudenken.
Außerhalb des Schwerpunkts formuliert Loïc Wacquant vier Prinzipien, die man in der theoretischen wie empirischen Arbeit mit dem Werk Pierre Bourdieus beachten sollte, und weist auf die Gefahren hin, die ein leichtfertiger, unreflektierter Einsatz Bourdieuscher Begriffe in der sozialwissenschaftlichen Forschung mit sich bringen kann. Vor einem breiten theoriegeschichtlichen Hintergrund erörtert Athanasios Karafillidis zwei grundlegende Fragen relationaler Soziologie: Wie kann man Relationen erkennen? Und wie entstehen aus Relationen Identitäten? Die erste Frage beantwortet er mit einem operativen Konstruktivismus, der die Realität nicht von ihrer Konstruktion trennt: „Es ist zwar nicht die, sondern nur eine Realität, aber sie ist echt, materiell und unausweichlich.“