Markus Lüpertz – GENESIS Das Werk
Band II
Anton Goll, Prof. Dr. Raimund Wünsche
Raimund Wünsche
Im ersten der fünf Bücher Mose, Genesis genannt, wird die Weltentstehung (Kosmogonie), die Erschaffung des Menschen, sein Sündenfall, die Sintflut, die Erwählung Abrahams und seiner Nachkommen geschildert. Es sind biblische Mythen, in denen ältere Überlieferungen Israels und wohl auch mythische Erzählungen anderer, früherer Kulturen verarbeitet sind. So findet sich die Geschichte von der Sintflut in dem um 1800 v.Chr. im Zweistromland (heute Irak) entstandenen Atrachasis-Epos, das auf viel ältere Quellen zurückgreift, in dem um 1200 v.Chr. in Babylon geschriebenen Gilgamesch-Epos und, mit fast gleichem Inhalt aber mit anderen Namen, auch in der Genesis wieder. Dies wird hier nur erwähnt, da Markus Lüpertz diese und andere Weltschöpfungsmythen, wie z.B. das um 1100 v.Chr. entstandene babylonische Enuma Elisch kennt und studiert, da sich in diesen Mythen das Denken, die Ängste und Hoffnungen des Menschen vergangener Zeiten in poetischer Form kristallisieren und ihm, wie ich glaube, als anschauliche und fantasieanregende ,Bilder‘ dienen. Die berühmten griechischen Naturphilosophen des 6. Jahrhunderts v.Chr. haben der Macht des Mythos die Vernunft (Logos) entgegengesetzt. Bei der Frage, aus welchem Urstoff die Welt entstanden sei, war man sich nicht einig: Thales dachte an Wasser, Anaximenes an Luft, Heraklit an Feuer. Auf sie aufbauend entwickelte Empedokles aus Akragas (um 495–435 v.Chr.), dem heutigen Agrigent in Sizilien, die Lehre von den vier Urstoffen: Feuer, Wasser, Luft und Erde. In dem sich diese Elemente mischen, entstehen neue Formen, die se mischen sich wieder bzw. trennen sich wieder und mischen sich mit anderen Mischformen usf. Empedokles stellte sich das Weltganze als Kugel vor, durchdrungen von diesen vier antithetischen Elementen. Er lehnte es ab, wie auch andere Naturphilosophen, sich die Götter menschenähnlich vorzustellen, dennoch wies er die vier Elemente einzelnen Göttern zu. Bis heute sind Darstellungen der vier Elemente, als symbolhafte Zeichen oder gemeinsam mit Personifikationen, ein beliebtes Thema in der abendländischen Kunst. In den Vier-Elemente-Bildern von Lüpertz flossen, neben der antiken Tradition, auch naturwissenschaftliche und historische Kenntnisse unserer Zeit ein, was dem Betrachter einen weiten Spielraum für verschiedene Interpretationen eröffnet. Die Bilder werden hier – anders als bei Empedokles – in der Abfolge Erde-Wasser und Luft-Feuer behandelt, was der Aufstellung in der U-Bahn folgt. Die weiteren Bilder sind hier zur leichteren Verständlichkeit nicht entsprechend der Aufstellung in der U-Bahn, sondern thematisch geordnet nach: griechische Mythen und Sagen, biblische Überlieferungen sowie Erzählungen aus Dantes „Göttlicher Komödie“. Heute fällt es vielen schwer, griechische Sagenbilder zu entschlüsseln, da die dargestellten Themen nur noch wenig bekannt sind. Und selbst wer sie kennt, findet manche Darstellungen rätselhaft, was sich leicht erklären lässt: Lange Zeit wurden in der Antike die Sagen mündlich tradiert. Dadurch unterlagen sie leichten Veränderungen, neue Versionen entstanden. Es gibt viele antike griechische Vasenbilder, die Sagenvarianten darstellen, die uns in keiner schriftlichen Überlieferung erhalten sind. Viel entscheidender ist jedoch, was uns heute fremd erscheint: Die antiken Dichter und Dramatiker scheuten sich nicht, ihre Göttermythen und Heldensagen auch in der inhaltlichen Aussage radikal umzugestalten, die Handlung an neue Orte zu versetzen, mit neuen Figuren zu bereichern … Genau das macht auch Lüpertz – so wie einst die antiken Schriftsteller und Dramatiker. Er verändert unbekümmert die Erzählung, spinnt sie weiter und bindet sogar Szenen und Gestalten aus unterschiedlichen Sagen zusammen. Dadurch entstehen Darstellungen, die oft vieldeutig sind. Damit steht er nicht allein. Das gilt auch für Bilder anderer Künstler. Mir scheint, als habe manch abendländischer Künstler ganz bewusst seine Malerei verrätselt. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die „Tempesta“ („Das Gewitter“), ein berühmtes Bild von Giorgione, entstanden 1508. Offensichtlich war es bestimmt für einen Kreis von Kunstliebhabern, Sammlern und Kennern, die sich erfreuten an einer Darstellung, die nicht jedermann sofort zugänglich war, sondern Fantasie und Gelehrsamkeit erforderte. Bei Giorgiones „Gewitter“ ist die Darstellung so geheimnisvoll, dass sie bis heute nicht eindeutig geklärt werden konnte. Das Bild wurde schon als biblische Szene, wie „Auffindung des Moses“ oder „Ruhe auf der Flucht“, als antiker Mythos, „Geburt des Bacchus“, „Abschied des Paris“ oder als Szene aus Ovid, Boccaccio, Petrarca oder als „Die vier Elemente“ gedeutet. Das Rätselhafte ist, wie man an diesem Beispiel gut sehen kann, kein Manko, sondern gibt dem Werk eine besondere Faszination. Rätselhaft ist auch Lüpertz’ Darstellung von „Orpheus und Eurydike“. Die Geschichte des Sängers Orpheus wurde schon in der Antike zum Mythos, der zwar in verschiedenen Varianten erzählt wird, aber eine eindeutige Aussage hat. Erst abendländische Bearbeitungen – vor allem für die Oper – gaben dem Sagenstoff andere Aussagen. Auch sie nimmt Lüpertz nicht auf: Seine Darstellung fügt den vielen Interpretationen eine interessante, neue hinzu. Das gilt auch für die Geschichte von Salome und Herodes, von der das Markusevangelium berichtet. Damit war für die abendländischen Künstler der Kanon der Darstellungsmöglichkeiten jahrhundertelang festgelegt. Erst im 19. Jahrhundert versuchte man, sich davon zu lösen – was Lüpertz in einem eindrucksvollen, ganz eigenwillig komponierten Bild schafft. Interessant ist, wenn man, wie hier versucht, die biblische Legende den wenigen, uns überlieferten historischen Fakten über Salome und ihrer Zeit gegenüberstellt. „Höllenfahrt Christi“ ist eine der vieldiskutierten theologischen Fragen. Mit seinem betenden „Christus in der Vorhölle“ fügt Lüpertz der Diskussion einen neuen Aspekt hinzu. Dantes „Göttliche Komödie“ ist heute auch wegen ihrer großartigen Illustrationen von Sandro Botticelli und Gustave Doré bekannt. In seinen drei Bildern zum „Inferno“ hat Lüpertz die riesige Zahl der von Dante geschilderten und auch in den Illustrationen gezeigten Sünder und ewig Verdammten ungemein reduziert. Es sind insgesamt nur sechs, denn für Lüpertz sind Dante und sein Begleiter, der Dichter Vergil, die wichtigen Figuren. Mit dieser Reduktion nimmt Lüpertz das Erzählerische und auf die damalige Zeit Bezogene aus dem Werk – Dante schrieb es 1307–1321 im Exil – und verleiht den Figuren eine enorme Aussagekraft und Monumentalität, die durch die abstrakt stilisierte Darstellung des infernalen Chaos noch gesteigert wird. Schließlich noch die beiden Stillleben „Ares als Poet“ und „Athener Tisch“. In ihnen finden sich Motive wie Helm, Schnecke, Totenschädel, die jedem, der Lüpertz‘ malerisches Werk kennt, vertraut sind. In ihrer Bedeutung und Aussage fügen sie sich bestens zu den übrigen Bildern und runden das Bildprogramm ab. Abschließend kurz zu den in diesem Buch angeführten Eigennamen: Die Römer haben viel von der griechischen Götter- und Sagenwelt übernommen und den Göttern neue Namen gegeben, die seitdem in der abendländischen Tradition sehr gebräuchlich sind: aus Zeus wurde Jupiter, Hera wurde zu Juno, Hades zu Pluto usf. Auch die Namen der Sagengestalten wurden latinisiert: aus Herakles wurde Herkules, aus Daidalos wurde Dädalus … Da viele der griechi schen Mythen uns oft nur durch Neufassungen römischer Dichter überliefert sind und diese über 1000 Jahre die abendländische Tradition bestimmten, haben sich lange Zeit auch die latinisier ten Namen durchgesetzt. Seit dem 19. Jahrhundert ist es aber im deutschen Sprachgebrauch wieder üblich, den großen Gestalten des griechischen Mythos die originalen griechischen Namen – in deutscher Umschrift – wiederzugeben, aber andererseits ganz bekannten Namen, wie z.B. dem Gott Apoll (lat. Apollo; griech. Apollon), die eingedeutschte Kurzform zu lassen. Diese gebräuchliche aber inkonsequente Regelung wird auch hier angewendet. Nur sind in manchen Fällen zum leichteren Verständnis den griechischen auch die lateinischen bzw. den lateinischen die griechischen Namen in Klammern beigefügt.