Metamorphosen des Märchens
Gundel Mattenklott, Kristin Wardetzky
Stoffe und Motive, Handlungsmuster und Erzählstrukturen des Märchens erhalten sich hartnäckig über große Zeiträume hinweg. Als Kunstgebilde und als literarisches Genre lässt es sich dagegen schwer auf einen einheitlichen Begriff bringen. Vielmehr zeigt es sich im historischen Prozess als erstaunlich wandlungsfähig. Einige seiner Metamorphosen von der Antike bis in die Gegenwart zeichnet dieser Band nach. In der griechischen Antike wird das Märchen vom Mythos absorbiert, aber so, dass seine Spuren im Homerischen Epos ebenso aufzufinden sind wie im spätantiken Roman. Im Barock, bei Basile, prunkt es mit Gelehrsamkeit und bezieht zugleich seinen Witz und seine Wirkung aus den derb-komischen Stimmen der Großstadtstraßen. Es tritt seinen Siegeszug durch die Theater und Opern des 18. und 19. Jahrhunderts an und begegnet seinen kindlichen und erwachsenen Lesern in Musik, bildender Kunst und Illustration, sowie – im 20. Jahrhundert – im Comic, im Film, Fernsehen und in den digitalen Medien. Gestaltung, Umgestaltung ist, wie Dieter Richter in seinem Beitrag zu diesem Buch mit den Worten eines Goethe-Zitats schreibt, des Märchen-Sinnes ewige Unterhaltung. Dabei verharrt das Märchen in der historisch bewährten Balance zwischen intelligentem Witz und populär-unterhaltsamer Wunschbefriedigung. Offensichtlich bietet es ein unerschöpfliches Reservoir von Bildern und Metaphern, in denen Menschen unterschiedlichster Lebenswelten und Kulturen Symbole ihres Selbst wiederzufinden vermögen. Das Märchen ist daher eines der wenigen kulturellen Integrationsphänomene unserer Gesellschaft und zugleich Weltliteratur im Wortsinn.