Neuer Realismus in der französischen Architektur

Neuer Realismus in der französischen Architektur

Editorial

Von Anh-Linh Ngo, André Kempe, Melissa Koch

Für ARCH+, ein Kind von 68, hat die französische Theorie – im Sinne der Stadtsoziologie und später des Poststruktu­ralismus – immer eine besondere Stellung gehabt. Die französische Architektur hingegen spielte kaum eine Rolle, abgesehen von Einzelpositionen wie Jean Nouvel, Dominique Perrault und Lacaton & Vassal. Dies liegt nicht etwa daran, dass in den letzten Jahrzehnten in Frankreich keine gute Architektur entstanden wäre. Vielmehr fehlte es von außen betrachtet an einem spezifischen diskursiven Beitrag, wie dies etwa bei der italienischen Architettura Razionale der Fall war. Die Situation hat sich im letzten anderthalb Jahrzehnt grundlegend gewandelt, nicht zuletzt, weil eine Architekturszene mit einer Dichte an Arbeiten entstanden ist, die im Ausdruck und in der Methodik über eine gewisse Kohärenz verfügt.

Diese neue Generation knüpft an die rationalistische Tradition französischer Prägung an – eine Tradition, die in der Vergangenheit vielfach als trocken und akademisch verschrien war. Neu und aufregend an der heutigen Entwicklung ist die poetische Verwandlung dieses Rationalismus, die davon herrührt, dass sich diese Generation auf den Alltag und die Gesellschaft einlässt. Es ist kurzum eine Poesie, die auf der produktiven Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen, ökonomischen und technischen Produktionsbedingungen der Architektur, der Alltäglichkeit und Sachlichkeit ihrer Ausdrucksmittel basiert. So haben wir dieses Heft, das den Hauptvertreter*innen dieser Richtung gewidmet ist, mit dem Begriff des „Neuen Realismus“ überschrieben.

Neuer Realismus meint hier die Aneignung und Transformation der Wirklichkeit durch Architektur – und damit ihre gesellschaftliche und politische Konnotierung ganz in der Tradition des französischen Realismus. Auch wenn sich im französischen Diskurs für die in Rede stehende Strömung die Bezeichnung „Neuer Rationalismus“ etabliert hat, insistieren wir mit dem Begriff des „Neuen Realismus“ auf der Besonderheit dieser Tendenz, die sich nicht allein im Stilistischen und Formalen erschöpft, wie es die Zuschreibung „rationalistisch“ suggerieren würde. Wir grenzen uns damit aber auch von der deutschen Lesart des Rationalismus ab, wie sie von konservativen Richtungen wie der Berlinischen Architektur propagiert wird, die sich eher auf Italien und weniger auf Frankreich beziehen und unter Missachtung des Sozialen das Tektonische und Überzeitliche betonen.

In diesem Sinne steht die zeitgenössische französische Bewegung im Dialog mit anderen europäischen Entwicklungen. Schließlich gehören die hier besprochenen Büros zur „Generation Europa“, für die der Austausch auf europäischer Ebene seit ihrem Studium im Rahmen von Erasmus-Programmen oder Europan-Wettbewerben zum Selbstverständnis geworden ist. Teilweise setzen sich die Teams aus verschiedenen Nationalitäten zusammen. Diese Offenheit führt auch zu grenzübergreifenden Gemeinschaftsproduktionen. Auffällig ist dabei die Geistesverwandtschaft mit den gegenwärtigen Architekturentwicklungen in Flandern (vgl. ARCH+ 220: NORMCORE – Die Radikalität des Normalen in Flandern), die sich konkret auch in gemeinsamen Projekten wie zum Beispiel bei l’AUC, Bourbouze & Graindorge, Bruther oder Muoto mit belgischen Büros wie Baukunst, De Vylder Vinck Taillieu, OFFICE Kersten Geers David Van Severen oder 51N4E niederschlägt.

Die Ergebnisse werfen auch die Frage nach nationalen Identitäten und deren schrittweisem Aufgehen in einer größeren, europäischen Identität auf. Für den französischen Kontext hat diese Entwicklung noch einen anderen, nicht unwichtigen Nebeneffekt: Indem diese Generation sich als Teil eines europäischen und internationalen Diskurskontinuums versteht, findet sie nicht nur eine eigene Ausdrucksform, sondern kann auch die in Frankreich traditionell starke Instrumentalisierung und formale Indienstnahme der Architektur durch die Politik abschwächen.

Dieses Verhältnis wurde untermauert durch das sogenannte Architekturgesetz von 1977, mit dem die politisch-ideologische Einflussnahme auf Fragen der Baukultur institutionell weiter ausgebaut wurde, was die französische Architektur in den letzten Jahrzehnten anfällig für eine gewisse Form von Opportunismus und oberflächlichem Populismus gemacht hat. Sie spielte vor allem bei Wettbewerben geschmäcklerischen Entscheidungen von Lokal­politiker*innen in die Hand und begünstigte eine Form des zeitgenössischen „Beaux-Arts-Populismus“, der eine medienwirksame Bildkultur befördert. Die hier vorgestellten Praxen setzen sich davon ab, ihr Referenzrahmen bildet eher das Werk von Architekt*innen wie Jean Nouvel oder Lacaton & Vassal, die in Frankreich Ausnahmepo­si­tionen einnehmen, sowie Arbeiten von Pionieren der Moderne wie Jean Prouvé, Fernand Pouillon und Auguste Perret oder japanische Positionen. Neben den innerarchitektonischen Referenzen sind es vor allem die sozioökonomischen Rahmenbedingungen, die die Entwurfshaltung dieser Generation prägen. Denn wie überall sind auch in Frankreich die Architekt*innen mit Kostendruck, überbordenden bautechnischen Normen und zunehmenden Standardisierungen konfrontiert, die von vornherein viel Disziplin und eine „Ökonomie der Mittel“ in der Entwurfsstrategie erzwingen.

Die junge Generation in Frankreich arbeitet innerhalb dieser engen Spielräume an einer „realistischen“ Architektur, die sich wieder vor allem auf die Struktur und die Konstruktion bezieht. Auch sichtbare Haustechnik wird von vornherein bewusst als entscheidendes Entwurfselement gesehen. Bautechnik an sich wird wieder in stärkerem Maße zelebriert. In ihrer Haltung zur Stadt zeigt sich die neue Architektur ebenfalls verändert: Sie hat sowohl aus dem postmodernen Stadt­diskurs der 1970er- und 80er-Jahre als auch dem globalisierten Metropolendiskurs der 1990er- und 2000er-Jahre Lehren gezogen und betrachtet Architektur wieder stärker als Werkzeug oder Rahmenwerk, das menschliche Aktivi­täten ermöglicht und zur Urbanität und Lebendigkeit der Stadt beiträgt. Sie folgt nicht mehr der rückwärtsgewandten Losung einer „Rückkehr zur Stadt“. Architektur und Stadtplanung dienen in diesem Sinne nicht mehr der Überschreibung, sondern der Akzeptanz des Bestehenden, das in seiner urbanen Eigenlogik gestärkt werden soll.

Die neueren Büros widersetzen sich damit dem Populismus und Opportunismus der Vorgängergeneration und bieten einen realistischen Blick auf die Architektur und Stadt an – und haben interessanterweise damit auch noch Erfolg bei Wettbewerben. Darin liegt für die Architektur­kritikerin Françoise Fromonot eine Gefahr: Die Archi­tekt*innen lieferten unter dem Deckmantel des Realismus der vorherrschenden neoliberalen Austeritätspolitik nicht nur Argumente, sondern auch eine eigene Ästhetik frei Haus. Dies ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen, doch die in dieser Ausgabe präsentierten realisierten Projekte zeigen, dass es nicht zwangsläufig so sein muss. Die Qualität der Arbeiten überzeugt, da die Architekt*innen den technischen und ökonomischen Einschränkungen eine beispielhafte, ja beinahe luxuriöse Architektur abtrotzen, und das vielfach im sozialen Segment.

Die Gefahr der Vereinnahmung durch Markt und Politik wird auch dadurch minimiert, dass sich viele der Büros durch Studien zu bestimmten Aufgabenbereichen, wie etwa Sport (NP2F) oder Wohnungsbau (STAR), eine eigene Programmatik und entsprechende Entwurfsregeln erarbeiten, bevor sie diese in konkrete Planungen umsetzen. Das erinnert an das Vorgehen bei der PLUS-Studie von Lacaton & Vassal und Frédéric Druot zur Erhaltung und Adaptation der Großwohnsiedlungen der Nachkriegszeit. Indem sie sich eine Expertise erarbeiten, können Planer*innen eine Alternative vorschlagen und die Programmatik des Bauens mitbestimmen. Doch solange sich die Position der Architekt*innen innerhalb der Produktionsverhältnisse nicht grundlegend ändert, werden ihnen die Rahmenbedingungen von außen diktiert, oder wie es der Soziologe Jean-Louis Violeau in seiner luziden Analyse des Berufsstandes seit Mai 1968 schreibt: Der Architekt „produziert seine Arbeit für Andere, mit dem Geld der Anderen“. In dieser Zwangslage etwas zu schaffen, das nicht nur den Istzustand abbildet, son­dern einen Ausblick auf andere Lebensmodelle und ge­sellschaftliche Zusammenhänge bietet, ist seit jeher die schwierige Aufgabe von Architektur.

Dass dies möglich ist, wird am Beispiel der neuen französischen Architektur in diesem Heft beleuchtet und diskutiert. Wichtige Vertreter der jungen Generation wie l’AUC, Bruther, Muoto und NP2F geben in ausführlichen Interviews Auskunft über ihre Haltungen und ihre Projekte nehmen breiten Raum ein. Daneben werden Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal sowie Finn Geipel von LIN, dem Grenzgänger zwischen Deutschland und Frankreich, als Ver­treter*innen der älteren Generation befragt, um Kontinuitäten und Unterschiede zur jüngsten Architekturentwicklung herauszuarbeiten.

Dass bestimmte Denkmuster große Zeiträume überdauern, zeigt Jean-Louis Cohens Einbettung der neuen Strömung in eine Genealogie des französischen Rationalismus seit der Moderne. Wesentlicher Teil dieser Tradition ist, wie Cohen, Architekturhistoriker und Gründungsdirektor der Cité de l’Architecture et du Patrimoine in Paris, und auch Emmanuel Caille, Chefredakteur der Architekturzeitschrift d’a, es benennen, ein antiintellektuelles Klima, das Architektur als geistige Disziplin ablehnt. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, dass es in Frankreich keine starke Theorie gibt, zumal keine, die die junge Generation von Architekt*innen, die hier besprochen wird, geistig trägt und fördert.

Deshalb sieht sich der Architekt Éric Lapierre in der Pflicht, neben seiner eigenen Büropraxis und Lehre durch Publikationen und Ausstellungen wie zuletzt auf der Architektur-Triennale in Lissabon mit dem Titel The Poetics of Reason (2019) eine solche Theorie zu formulieren. Entsprechend hat er sich als Stichwortgeber dieser Generation etabliert, der mit dem Motto der „Ökonomie der Mittel“ das theoretische Konstrukt für die Strömung liefert. Was darunter zu verstehen ist, skizziert er selbst in seinem Essay in dieser Ausgabe. Darüber hinaus wird sein bisher größtes Projekt präsentiert, das Studierendenwohnheim Chris Marker in Paris, parallel zu einem Interview mit dem Auftraggeber dieses Gebäudes, Rémi Feredj, damals Direktor der Immobilienabteilung des Pariser ÖPNV RATP, heutiger Direktor von Post Immo, dem Immobilienunternehmen der französischen Post und damit einer der größten öffentlichen Auftraggeber im Land. Dieser rechnet scharf ab mit den auch in Frankreich allgegenwärtigen Trends zu öffentlich-­privaten Partnerschaften (PPP) und spricht Klartext über die Realität der Wohnbauförderung, bei der private Projektentwicklungsgesellschaften durch Steuervergünstigungen indirekt subventioniert werden und der Staat damit letztendlich dem Profitstreben großer Konzerne in die Hände spielt.

Die neoliberale Wende in der Architekturproduktion in Frankreich kommt in verschiedenen Beiträgen in dieser Ausgabe zur Sprache, zumal das Land eine starke Tradition professionell organisierter öffentlicher Wettbewerbe besitzt, die sich immer mehr zu einer durch private Investitionen dominierten Architekturproduktion verschiebt. Bei den Auftraggebern leistet die neoliberale Wende einer klaren Monopolisierung Vorschub, und das in einem Land, das durch seine ohnehin jahrhundertealten zentralistischen Strukturen eine sehr große Monopolisierung der Baubranche kennt. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass innerhalb dieses Machtgefüges die öffentliche Hand zumindest in den Metropolen den privaten Entwicklungen dennoch Qualität abzuzwingen versucht, was auch oft gelingt. Dieser Trend gipfelt in groß angelegten Massenwettbewerben wie zum Beispiel Réinventer Paris, Inventons la Métropole du Grand Paris oder 50.000 logements in Bordeaux, die gleichzeitig stark auf Stadtmarketing und den Verkauf schwieriger Grundstücke zum Füllen der Stadtkassen ausgerichtet sind.

Zum Erzwingen von Qualität spielen in Frankreich Vertreter*innen des kulturellen Netzwerks bei der Auswahl von Projekten in Jurys sowie der Bevorzugung bestimmter Architekturen in den Städten eine Schlüsselrolle. Eine wichtige Basis hierfür ist der in Europa einzigartige Umstand, dass Architektur dem Kulturministerium untersteht. Diese Tatsache stärkt die Architektur, da ein kulturelles Argument in der quasiaristokratischen Politik immer noch stark zählt; doch zugleich schwächt sie dieser Umstand, da die Architekt*innen damit im eigentlichen Baugeschehen weniger ernst genommen werden.

Diese Entwicklung ist eine direkte Folge von 68. In ein­em honorigen Akt der Selbstaufopferung, so Jean-Louis Violeau, haben sich die Architekt*innen selbst aus dem Spiel genommen. Doch statt einen ehrenwerten Tod zu sterben, wird ihnen selbst das Ende verwehrt: „Der Architekt bleibt am Leben, während er soziologisch gesehen tot ist.“ In seinem scharfen und scharfsinnigen Text zeichnet Violeau die Entwicklung der Architekturausbildung und des Berufsbildes in Frankreich als einen selbstzerstörerischen Prozess in Folge des Mai 1968 nach. „Direkt nach dem Mai 68 wäre der Tod des Architekten als Autor ein wahres Ereignis gewesen, aus dem etwas Neues hätte hervorgehen können, eine andere Geschichte und ein anderes Projekt, eine schicksalhafte Bestimmung. Doch statt kollektiver Kreativität, dem Traum der Linken, hat sich die Figur des marktkonformen Starchitekten durchgesetzt.“

Diese Diagnose trifft den Berufsstand ins Mark, doch lässt sie auch viele Entwicklungen außer Acht, die sich in den letzten Jahren, mit starken Referenzen an 68, in Form der engagierten Architektur entwickelt haben. In Frankreich sind das etwa Kollektive wie Exyzt, Encore Heureux oder Atelier d’architecture autogérée, die sich einer dezidiert partizipativen, gemeinschaftsorientieren und antiformalen Architektur verschrieben haben. Auch hier gibt es starke Parallelen zwischen Frankreich und Deutschland. Doch in dieser Ausgabe fokussieren wir auf eine architektonische Sichtweise, deren Erfolge vor allem im öffentlich geför­derten Sozialwohnungsbau zu sehen sind. Diese Bau­auf­gabe hat in Frankreich ungebrochen eine große Bedeutung für die gesamte Architekturproduktion und ist für Architekt*innen ein beliebtes Arbeitsfeld, anders als das Bauen für private Projektentwicklungsgesellschaften.

Die Qualität der Projekte ist im Sozialwohnungsbau nahezu immer besser als die im privaten Markt. Andererseits verfügt der soziale Wohnungsbau über ein festgelegtes Regelwerk, das wie ein Korsett wirkt und kaum Innovation zulässt – ein Umstand, der seit vielen Jahren von Architekten wie Jean Nouvel und Lacaton & Vassal kritisiert wird. Die Qualität der hier vorgestellten Sozialen Wohnungsbauprojekte macht dennoch geradezu fassungslos – und neugierig. Was können deutsche Architekt*innen vom Neuen Realismus in Frankreich lernen – insbesondere vor dem Hintergrund der Wohnungskrise, in der wieder Quantität gegen Qualität ausgespielt wird? Letztendlich geht es uns hier um diese Frage, und weniger um den vergeblichen Versuch, einen neuen Trend auszurufen oder festzuschreiben.

Diese Ausgabe wäre ohne die Initiative und engagierte Mitarbeit von André Kempe und dem Atelier Kempe Thill nicht möglich gewesen. Ihnen gilt unser großer Dank. Für die großzügige Förderung des Dialogs mit den in dieser Ausgabe beteiligten Büros danken wir sehr herzlich dem Fonds PERSPEKTIVE für zeitgenössische Kunst & Architektur des Bureau des arts plastiques des Institut français Deutschland, gefördert durch das französische Kulturministerium, das Institut français Paris und das Goethe-Institut.

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